Christian Grethlein: "Lebensalter. Eine theologische Theorie"
Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2019240 Seiten, 28 Euro
Lasset die Kinder zu mir kommen!
09:29 Minuten
Nicht der starke Mensch steht in der christlichen Botschaft im Mittelpunkt, sondern der schwache – vor allem Kinder. Wie passt das zur Leistungsgesellschaft und was bedeutet es für unsere Zukunft? Ein Gespräch mit dem Theologen Christian Grethlein.
Christopher Ricke: Das ist tief in unsere Kultur geschrieben, dass man auf die Schwachen achtet. Das ist ja auch eine Kernaussage des Christentums. Zum Beispiel in den Zehn Geboten heißt es, "Du sollst Vater und Mutter ehren", und bei den Evangelisten lesen wir, "lass die Kinder zu mir kommen, hindert sie nicht daran, denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Gottes".
Es gibt also verschiedene Lebensalter, die schon in den biblischen Texten eine große Rolle spielen, und natürlich spielen solche Lebensalter auch in unserer Gesellschaft eine Rolle. Der evangelische Theologieprofessor Christian Grethlein hat jetzt eine theologische Theorie vorgelegt, sie ist als Buch erschienen, und sie heißt genau so: "Lebensalter".
Jesu Botschaft im Widerspruch zur Leistungsgesellschaft
Es ist ja jetzt nicht der starke, der schaffende Mensch, der bei Jesus vorne steht, sondern der schwache und der schutzbedürftige: Kindern gehört das Himmelreich. Die Schwachen, die sind ja nicht so wie die, die voll leistungsfähig sind. Das passt ja irgendwie nicht zur Leistungsgesellschaft, geschweige denn zu Charles Darwin.
Grethlein: Überhaupt nicht. Das passte aber auch schon zur Zeit Jesu nicht, in seiner Gesellschaft, weil wenn Sie im Neuen Testament nachschauen, dann versuchen die Jünger zu verhindern, dass kleine Kinder zu Jesus gebracht werden. Er interveniert dann und sagt, die stehen in besonderer Nähe zum Reich Gottes. Also, dieses Problem haben wir wohl schon länger.
Ricke: Und diese Intervention vor 2000 Jahren, wirkt die bis heute?
Grethlein: Die ist weitgehend verschüttet worden. Ich denke mir, christentumsgeschichtlich kann man da ein paar Daten aufrufen, dass zum Beispiel Kinder im 12., 13. Jahrhundert von der Eucharistie ausgeschlossen wurden oder Ähnliches, wo ganz deutlich dieser Grundimpuls Jesu verlorengegangen ist, auch dieser Impuls.
Ricke: Und wie ist es heute?
Grethlein: Es gibt erste Ansätze, das wieder zu entdecken, und zwar durchaus erst mal sozusagen durch Fremdprophetie gesteuert, und zwar im Zuge pädagogischer Aufbrüche. Am Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts kamen wieder Kinder und ihre Eigenart und Besonderheit und auch ihre Ausstrahlung neu in den Blick. Das wurde dann im Laufe des 20. Jahrhunderts auch in theologischen Entwürfen zum Teil wieder aufgenommen.
Kinder werden bis heute oft ausgeschlossen
Ricke: Also wenn ich sage, "lass die Kinder zu mir kommen" ist eine sehr populäre Bibelstelle, dann gilt das wirklich erst für die jüngere Vergangenheit.
Grethlein: Genau. Sie brauchen nur mal ikonografisch sich im Mittelalter anschauen, wie diese Geschichte dargestellt wurde. Das sind meistens die zum Herrn gebrachten Kinder erwachsene Männer, die da hinzutreten. Also man hat diese Geschichte sehr stark adaptiert in die eigene Lebenswelt, in der vor allen Dingen die erwachsenen, leistungsfähigen Männer eine Rolle spielten. Frauen waren da sowieso exkludiert, und Jesus unterscheidet nicht zwischen Männern und Frauen, also zwischen Mädchen und Jungen, sondern er meint offensichtlich beide.
Ricke: Jetzt dürfen also im 21. Jahrhundert und auch im 20. die Kinder wieder ihren Platz einnehmen in der Verkündigung, aber gilt das jetzt nur sonntags in der Kirche, oder gilt das auch werktags in der Gesellschaft?
Grethlein: Wenn die Kinder ihren Platz in der Verkündigung einnehmen könnten, wäre ich sehr froh. Ich glaube, da stehen auch unsere Kirchen vor ganz, ganz großen Aufgaben. Nach wie vor werden die meisten Feiern des heiligen Mahls oder der Eucharistie, wie katholische Geschwister das nennen, ohne kleine Kinder gefeiert. Die werden nach wie vor exkludiert. Also da steht uns Etliches bevor, und ansonsten haben wir eine Gesellschaft eingerichtet, in der meistenteils Kinder keinen Zutritt haben. Bestes Beispiel: Unser Straßenverkehr.
Die Orthodoxe Kirche als Vorbild
Ricke: Ich bleibe noch mal in der Kirche, ich gehe in meine eigene. Also da dürfen die Kleinen, nachdem sie während der Lesung im Evangelium in einem Nebenraum kindgerecht betreut worden sind, dann doch zum Vaterunser mit in den Altarraum. Ist das schon ein erster Schritt?
Grethlein: Das ist sicher ein erster Schritt, bloß für mich wäre die gemeinsame Mahlfeier ganz wichtig, weil die uns Christen miteinander verbindet. Da kann man in der Tat dann auch die Orthodoxen als Vorbild nehmen, bei denen auch bei der Taufe von Kleinkindern selbstverständlich dazugehört, dass das Kind vom Finger des Priesters ein Stück Wein ablutscht, um mit dabei zu sein.
Ricke: Jetzt sortieren Sie in Ihrem Buch "Lebensalter" Kindheit, Jugend, Erwachsensein, Altsein. Kann man diese vier Phasen eigentlich klar voneinander abgrenzen?
Grethlein: Nein, das kann man sicher nicht, wobei in meinem Buch schreibe ich sogar vorsichtig ja von Kindheiten, im Plural. Da wird ganz deutlich, dass viele kulturelle Kontextualisierungen im Hintergrund stehen. Es gibt also nicht die Kindheit, und Jugend ist sowieso eine Phase, die es erst seit Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts gibt, und beim Alter leben wir wohl gegenwärtig in einer Phase, in der sich das wieder ausdifferenziert. Wir sprechen vom dritten und vierten Lebensalter, also etwa 60 bis 75 und darüber. Also das unterliegt ständig dem Wandel. Und mit dieser Unterteilung habe ich nur versucht, eine Grundschematisierung vorzunehmen.
Bedürftigkeit macht den Menschen aus – in jedem Alter
Ricke: Man kann es ja noch ein bisschen einfacher formulieren, wenn man sagt, der Mensch beginnt und endet hilfsbedürftig, –
Grethlein: Ja.
Ricke: – und das rahmt die Zeit der Eigenständigkeit, der Selbstständigkeit, in der man leistungsfähig ist, zeugungsfähig, familienfähig, gesellschaftsfähig. Jetzt haben wir aber gerade auch darüber gesprochen, dass biblisch gesehen auch diese Phasen, in der der Mensch eine besondere Zuwendung braucht, ihren eigenen Wert hat. Wie wird der definiert?
Grethlein: Der Grundwert ist offensichtlich, dass hier die Grundbestimmung des Menschen am deutlichsten zum Ausdruck kommt, und zwar sein Angewiesensein. Offensichtlich sind wir Wesen, die wesentlich vom Angewiesensein her leben und erst dann aktiv werden können. Das ist ja etwas, was uns auch die Pädagogik lehrt: Erst mal muss ich den zu Erziehenden eine Zuwendung zuteil werden lassen, und dann kann ich von ihm was fordern. In unserer Leistungsgesellschaft haben wir das aber weitgehend umgedreht, wir fordern von den Menschen etwas, und das Angewiesen-, Bedürftigsein tritt eher zurück.
Ricke: Dieses Angewiesen- und Bedürftigsein ist ja nicht immer und unbedingt ans Lebensalter geknüpft. Es gibt ja auch die Pflegebedürftigen in jüngeren Jahren. Es gibt die Behinderten, die dann, na ja, mehr oder weniger in Heime aufgeräumt werden.
Grethlein: Genau, und auch da, glaube ich, geht unserer Gesellschaft viel verlustig. Also ich selber spreche nicht mehr von Behinderten, sondern von Menschen mit Behinderungserfahrung, denn Menschen mit Einschränkungen machen besondere Erfahrungen, und gerade in diesem Angewiesensein können sie uns, die wir nicht diese Einschränkungen haben, wichtige Hinweise zur Gestaltung unseres Lebens geben.
Ricke: Zum Beispiel?
Grethlein: Dass wir unser Leben als dankbar erleben, als etwas, was wir uns nicht selber verdanken, sondern was uns geschenkt wurde, und Geschenke sind auch nicht immer auf Dauer angelegt, sondern sie sind im Moment zu genießen.
Freiheit durch Abhängigkeit
Ricke: Es ist nur in der Praxis wirklich schwierig, also meine Mutter, 84 Jahre alt, ist noch nicht angewiesen. Die lebt noch selbstständig, aber sie lebt weit weg von ihren Kindern, nicht etwa, weil sie weggezogen ist, sondern weil die Kinder weggezogen sind, und wir sind froh, wenn wir sie ab und zu besuchen können.
Grethlein: Ja. Das ist sozusagen der Preis, den wir für eine gewisse Mobilität bezahlen. Ich denke mir, wir haben hier ein Konzept überreizt. Sicher, Ablösungsprozesse schenken auch Freiheit, aber es ist die Frage, ob Freiheit ein absoluter Wert ist oder, ob Freiheit gegründet ist in einer gewissen Abhängigkeit. Der große evangelische Theologe Schleiermacher hat von der schlechthinnigen Abhängigkeit des Menschen gesprochen, die erst Freiheit ermöglicht. Da, glaube ich, hat er was Wichtiges erkannt.
Ricke: Schauen wir mal zu einer zentralen Aufgabe der Kirchen. Das ist ja die Sinngebung im Leben, und wenn ich in die Kirchen schaue, sind im besten Fall ein paar ganz Junge dabei, in jedem Fall aber viele, viele Alte, die dann überrepräsentiert sind. Die zwischen 18 und 50, die fehlen irgendwie. Also wenn man sagt, die Kirche muss an die Ränder der Gesellschaft gehen, meint das auch die Altersränder?
Grethlein: Darf ich eine kleine Korrektur vornehmen?
Ricke: Bitte korrigieren Sie mich.
Kirche findet auch zu Hause statt
Grethlein: Und zwar beim Begriff Kirche. Wenn Sie vom Neuen Testament her denken, kommt Kirche in vier Sozialformen vor, als Haus, als Kirche im Ort, als Kirche in der Landschaft und weltweit. Wir haben uns angewöhnt, die beiden mittleren Formen als die Kirche zu bezeichnen. Mich interessiert zum Beispiel sehr viel mehr die Mutter, die am Abend mit ihrem Kind betet. Das ist zweifellos Kirche. Also da partizipieren sehr viel mehr Menschen an Gott und seiner Gnade im bewussten Sinn, als wir uns das, wenn wir in Kirchengebäude schauen, so klarmachen.
Ricke: Also geht die Kirche raus aus der Kirche.
Grethlein: Genau beziehungsweise die Kirche hat selber Kirche vom Neuen Testament her verengt im Begriff, und wir haben es auch umgangssprachlich so übernommen. Das ist, glaube ich, ganz wichtig, da entsprechend wieder zurückzufinden. Es ist zum Beispiel sehr schön, Martin Luther spricht von der Mutter, die mit ihrem Kind betet, als von einer Bischöfin. Das ist die eigentliche Bischöfin, nicht der, der irgendwie besondere Weihen hat und in irgendeinem Ex-cathedra-Moment sitzt. Also, insofern ist das auch nichts Revolutionäres, sondern etwas, was durchaus schon von anderen auch lange vorher gedacht wurde.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.