Jesus von Oberammergau

Von Vladimir Balzer |
Bei den neuen Passionsspielen in Oberammergau, bei denen über 2000 Oberammergauer auf der Bühne stehen, gibt Regisseur Christian Stückl Jesus seinen jüdischen Hintergrund zurück. Der Mann aus Nazareth küsst die Thora und spricht zuweilen hebräisch.
Wo gibt es noch ernsthaftes Volkstheater? Wer macht sich die Mühe noch? Wer steigt für mehrere Monate aus seinem Beruf aus und ist für niemanden mehr zu sprechen - außer für den Regisseur? Wer lässt seine Twitter- und Facebook-Accounts verwaisen und spielt stattdessen die Leidensgeschichte der Identifikationsfigur des Christentums vor zehntausenden Zuschauern aus aller Welt? Die Bewohner des talentiertesten deutschen Theaterdorfs - Oberammergau. So wie Generationen vor ihnen, seit 370 Jahren.

Was die Spieler diesmal auf die Bühne gebracht haben, hat eine theatrale Wucht von der viele etablierte Regisseure in München, Berlin und anderswo nur träumen können. Während dort oft genug mit verwinkelten Bilderwelten und mehrfach verfremdeten Charakteren das Theater auf höchste Abstraktionsebenen gehoben wird, gelten in Oberammergau vor allem zwei Theaterwerte: Klarheit der Geschichte und Verständlichkeit des Gefühls. Und dies ohne jede Anbiederung, ohne Kitsch, ohne Klischees, ohne sentimentales Getue - auch wenn die Passionsgeschichte Jesu beste Voraussetzungen dafür geboten hätte.

Regisseur Christian Stücklhat aber alles richtig gemacht: Er zeigt Jesus als zutiefst überzeugten Humanisten. Dafür greift Stückl auf die Bergpredigt zurück, die streng genommen nicht Teil der Passionsgeschichte ist. Seinen etwas zu lang beibehaltenen Predigerton verliert Jesus erst, als er den Tod vor Augen hat - es ergreift ihn die Verzweiflung, er bricht zusammen und ruft nach dem Vater. Der sonst eher stille Darsteller Frederik Mayet bricht in dieser Szene aus, schreit seine Verzweiflung den 5000 Zuschauern entgegen – und man glaubt es ihm. Jesus in Todesangst; Jesus als Mensch, der das Leben liebt und nicht nur das Himmelreich vor Augen hat. Das wird nicht jedem konservativen Theologen schmecken.

Auch Judas ist irritiert. Er hatte auf den Mann aus Nazareth gesetzt, weil er glaubte, er sei der neue Judenkönig, der auf Erden ein mächtiges Reich errichten würde - ohne die verhassten Römer. Als sich Judas' Hoffnungen nicht erfüllen, weil Jesus keine Erdenmacht akzeptiert, gegen die er vorgehen könnte, schaltet Judas die Priester ein und liefert damit den Nazarener aus. Er verzweifelt an dem, was sich jetzt als Verrat erweist.

Regisseur Christian Stückl gibt bei alldem Jesus seinen jüdischen Hintergrund zurück. Es werden so oft Begriffe wie "Rabbi", "Jude" und "Israel" erwähnt, dass man es als Trotzreaktion gegen die christlichen Versuche verstehen kann, Jesus sein Judentum zu nehmen. Dieses Jahr in Oberammergau zelebriert der Mann aus Nazareth jüdische Lithurgien, küsst die Thora und spricht zuweilen hebräisch. Auch das schmeckt nicht jedem Über-Christen.

Nach sechs Stunden Spiel kommen die Oberammergauer zum Schlussapplaus nicht mehr auf die Bühne. Da kann das Premierenpublikum noch so lange klatschen und sich fragen: `Wo bleim's denn?`. Niemand kommt, nicht Jesus, nicht Judas, nicht Maria, und erst recht nicht die restlichen 2000 Oberammergauer Spieler, auch wenn die 75 Meter breite Bühne sie fassen würde. Hier wird sich nicht verbeugt, und niemandem wird gedankt. Das war keine Theaterinszenierung, auch wenn alles darauf hindeutet. Wer als Darsteller diese Passion verkörpert und durchlebt hat, der kommt nicht mehr auf die Idee, sich auch noch feiern zu lassen.

Links auf dradio.de:

Interview mit dem Regisseur Christian Stückl

Links zum Thema:

Homepage 41. Oberammergauer Passionsspiele
Christian Stückl, Regisseur Passionspiele Oberammergau und Intendant des Münchner Volkstheaters
Christian Stückl© Passionsspiele Oberammergau 2010, Foto: Thomas Dashuber
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