Mehr Macht den Bürgern!
Ob in den USA, Ungarn oder der Türkei - weltweit erstarken Populisten, sägen Regierungen an den Grundfesten der Demokratie. Auch in Deutschland wächst der Protest der Unzufriedenen. Warum wir dennoch mehr direkte Demokratie bräuchten, erklärt die Journalistin Arlette-Louise Ndakoze.
Weltweit sind populistische Gruppierungen zwar längst nicht in der Überzahl. Doch sie beunruhigen. Ihr Auftreten ist lauter, sichtbarer, radikaler als noch vor einem Jahr. Und ganz ehrlich: Wer hätte vor einem Jahr an den Wahlsieg eines Donald Trump geglaubt? Oft wird gefragt, was diese Entwicklung über jene Bürger aussagt, die simple Antworten wählen. Viel zu selten fragen wir: Was sagt das über die Politik aus? Dabei ist die Politik auch hierzulande in einen Stillstand geraten und steckt deshalb in der Krise.
Eine ganze Dekade lang haben Große Koalitionen bewirkt, dass Parteien Kompromisse eingegangen, ihre einstigen Wahlprogramme hintangestellt und Unterschiede durch Einheitlichkeit ersetzt haben. Folgt man dem Philosophen Georges Bataille und seinem Essay von 1933, ist eben diese Einheitlichkeit der Grund für Bewegungen am Rand der Gesellschaft. Sie lasse Bürger in die Arme eines populistischen, gar faschistischen Wortführers rennen. In ihm sähen sie jemanden, der ihre Bedürfnisse aufgreife. Ob er auch wirklich ihre Ansichten vertritt, ist zweitrangig.
Nicht auf der Straße, sondern direkt im Parlament
Die "psychologische Struktur des Faschismus" nannte Georges Bataille dieses Phänomen im selben Jahr, als Adolf Hitler Reichskanzler wurde. Bataille widersprach damit Karl Marx, der Gesellschaftskrisen allein ökonomisch begründet hatte. Die aktuelle politische Krise, in der auch das ökonomisch so starke Deutschland steckt, sie scheint mir eine vor allem psychologische Krise zu sein, in der ohnmächtige Bürger von wortmächtigen Anführern aufgefangen werden wollen.
Dass diese Gruppierungen in den USA und ganz Europa anwachsen, beunruhigt. Sollte man sie deshalb eindämmen, ihnen das Wort oder das Versammlungsrecht nehmen? Nein, im Gegenteil. Jeder Einzelne sollte zu Wort kommen können – nicht nur auf der Straße, sondern direkt im Parlament.
Seine noch undefinierten Ängste fänden dort Ausdruck und Gehör, und, das ist entscheidend: er müsste seine Forderungen und seinen Protest persönlich vertreten. Das würde die einheitlichen Blocks auflösen zwischen Großer Koalition und populistischer Gruppierung. In den Fokus rückte wieder die Politik, wovon Populisten ablenken und mancher Politiker ablenken lässt.
Der Unmut in der Gesamtbevölkerung wird weiter wachsen: darüber, dass immer weniger der Mensch und immer mehr das Geld in Deutschland zähle, dass Wohnungsmieten weiter ansteigen, dass Arbeitsverhältnisse prekär geblieben sind oder die Rente unsicher bleibt.
Verfassungsgericht hätte noch mehr zu tun
Doch obwohl sie von diesen Fragen direkt betroffen sind, dürfen die Bürger nicht direkt mitbestimmen. Direkte Demokratie beschränkt sich in Deutschland auf Ja/Nein-Referenden zu einzelnen Themen. Bürgerinnen und Bürger sollten jedoch kontinuierlich mit an den Verhandlungstisch, ins Parlament, in Person und mit eigener Stimme. So könnte Protest sich nicht mehr in der Masse verstecken, sondern müsste Gesicht zeigen.
Natürlich würde eine Bürgerbeteiligung direkt im Parlament auch Risiken bergen. Das Verfassungsgericht hätte sicher viel zu tun und müsste noch öfter als bisher als Bollwerk gegen undemokratische Forderungen dienen. Doch diese Mühen bringt eine Demokratie eben mit sich.
Nicht wenige Bürgerinnen jenseits des Populismus dürften dazu bereit sein. Ihre Enttäuschungen über den neoliberalen Kurs der Regierung haben sie längst Bündnisse und Initiativen gegossen. Ihre Arbeit ist konstruktiv, ihre Demos sind entschlossen aber friedlich. Noch suchen sie den Dialog mit Politikern. Wie lange noch wollen Politiker darauf verzichten?
Arlette-Louise Ndakoze, 1983 in Burundi geboren, studierte Frankreichwissenschaften in Berlin und Ruanda und lebt und arbeitet als freie Journalistin in Berlin.