Jetzt Hamas

Von Richard Herzinger · 31.01.2006
Der Absturz des Fatah-Establishments war ein Ereignis mit Ansage. Wie korrupt das Regime Arafats und seiner Nachfolger gewesen ist, davon zeugt folgender palästinensischer Witz. Während einer Sitzung des PLO-Zentralkommittees wird Arafat von seiner aufgeregten Frau angerufen: "Yassir, Yassir, ich höre so unheimliche Geräusche. Ich glaube, wir haben Diebe im Haus." Arafat sieht sich kurz am Tisch um und antwortet dann: "Das kann nicht sein. Die sind alle hier bei mir."
Lange Zeit hat der Westen die Augen vor der Tatsache verschlossen, dass die palästinensische Führung zum Aufbau einer halbwegs stabilen und integren Staatlichkeit unfähig war. Sie war nicht willens oder in der Lage, den terroristischen Gruppen das Handwerk zu legen - und zwar nicht nur den islamistischen, sondern auch denen aus dem eigenen Lager. Unverdrossen pumpten US-Amerikaner und Europäer dennoch Unsummen in die Kanäle der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), ohne die Zahlungen ernsthaft an Bedingungen zu knüpfen - vor allem an die Achtung grundlegender Menschen- und Bürgerrechte, die das Regime der eigenen Bevölkerung vorenthielt. Aber auch an die Bedingung, dass die Verherrlichung von Selbstmordattentaten und die antijüdische Hetze in palästinensischen Schulbüchern und im staatlichen Fernsehen aufhört. All das wurde nämlich durch westliche Gelder mitfinanziert.

Nicht nur Opportunismus, sondern auch westliche politische Romantik hat dieses beharrliche Wegschauen bewirkt. Irgendwie erschien Arafat mit seinem malerischen Kopftuch in wohlmeinenden europäischen Augen als Repräsentant der ewig unterjochten Dritten Welt, der Verdammten dieser Erde. Und die Palästinenserführer verstanden es stets prächtig, sich zur Stimme eines ewigen, unschuldigen Opfervolks zu stilisieren. Wenn palästinensische Organisationen halbe Kinder losschickten, um sich in die Luft sprengen und möglichst viele wehrlose Menschen mit sich in den Tod zu reißen, dann fanden sich bei uns genügend Leute, die dies der Verzweiflung von Unterdrückten zuschrieben und somit zur lässlichen Sünde erklärten.

Erst seit Israel aus Gaza abgezogen ist, ist überdeutlich geworden, dass die palästinensische Führung die israelische Besatzung - so schlimm sie tatsächlich war -, nur als Ausrede benutzte, um ihre zynische Machtpolitik zu bemänteln, mit der sie die eigene Gesellschaft in Elend und Chaos stürzte. Was es der Hamas leicht machte, sich als einzige Ordnungsmacht im Lande zu profilieren.

In ihr hat es der Westen jetzt freilich mit einer Kraft zu tun, die - wie ihr Hauptunterstützer, die Islamische Republik Iran - Israels Vernichtung will und einen theokratischen Gottesstaat anstrebt. Es ist zu hoffen, dass die Europäer nunmehr Festigkeit zeigen und im Einklang mit den USA alle Hilfsgelder einfrieren, sollte sich Hamas nicht zu Gewaltverzicht und der Anerkennung Israels durchringen. Schon reden sich freilich zahlreiche Stimmen hierzulande die Situation wieder schön: Die Hamas sei vielleicht gar nicht so schlimm wie sie scheint, sie werde sich an der Regierung schon bald mäßigen müssen.

Derselben Illusion waren die Europäer viele Jahre lang im Umgang mit dem Mullah-Regime in Teheran gefolgt. Hartnäckig hatte man darauf vertraut, dass ein "Reformflügel" im theokratischen Apparat die Zügel in die Hand nehmen und das Land in zivile Bahnen lenken werde. Das Ergebnis war das Gegenteil. Jetzt regiert im Iran ein apokalyptischer Fundamentalist, der aggressiv den Holocaust leugnet und mit der atomaren Option herumfuchtelt.

Das Fiasko enthält für den Westen eine Lehre: Es ist stets ratsam, davon auszugehen, dass Extremisten das, was sie sagen, auch genau so meinen. Wenn sie überhaupt zur Mäßigung gezwungen werden können, dann nicht, indem man hinter ihren Worten nach verdeckten edlen Motiven forscht und sie mit Verständnis auf den Pfad der Tugend zu locken versucht. Sondern allenfalls, indem man ihnen die Zusammenarbeit verweigert und den Geldhahn abdreht.

Doch für eine solche harte Haltung sind die Spielräume für den Westen geringer denn je. Denn er ist in einem Paradox gefangen: Von dem Demokratisierungsprozess, der vom Westen selbst in Gang gesetzt wurde, profitieren im Nahen und Mittleren Osten derzeit vor allem antiwestliche Islamisten - nicht nur in Palästina, sondern auch in anderen Ländern wie Ägypten, wo die Muslimbrüder bei den letzten Wahlen enorm zugelegt haben. Als was immer die Hamas sich entpuppen mag, eines ist sie auf jeden Fall: demokratisch legitimiert. Insofern steht der Westen jetzt ratlos vor den Früchten seines eigenen Erfolgs. Es gibt eben, wie ein kluger Essayist einmal bemerkte, Siege, die von Niederlagen nicht zu unterscheiden sind.

Dr. Richard Herzinger, Jahrgang 1955, ist Journalist und Buchautor. Er arbeitet als außenpolitischer Redakteur bei der "Welt am Sonntag". Zuvor war Herzinger Deutschlandkorrespondent der in Zürich erscheinenden "Weltwoche" und hatte als Redakteur und Autor der Wochenzeitung "DIE ZEIT" gearbeitet. Letzte Buchveröffentlichungen: "Die Tyrannei des Gemeinsinns - ein Bekenntnis zur egoistischen Gesellschaft" und "Republik ohne Mitte".