Helen Mirren

Warum soll sie nicht Golda Meir spielen dürfen?

06:45 Minuten
Helen Mirren trägt ein auffälliges gelbes Kleid auf dem Roten Teppich in Cannes 2021.
© picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Brynn Anderson
Ein Kommentar von Eberhard Spreng |
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Helen Mirren spielt in ihrem neuen Film die israelische Politikerin Golda Meir. Doch das gefällt einigen Aktivisten in Großbritannien gar nicht. Ihr Vorwurf: Mirren betreibe damit „Jewfacing“. Doch trägt die Analogie zum "Blackfacing" überhaupt?
Achtung Triggerwarnung: Hamlet ist noch nie aufgetreten. Keine und keiner sah je Gretchen oder Julia auf einer Bühne oder Phädra oder Stella oder King Lear oder Jedermann. Denn, was wir da alle seit Jahrtausenden an Aufregendem auf der Bühne erleben, ist die grundlegende Kulturübung einer kollektiven Autosuggestion: Eine Darstellerin oder ein Darsteller agiert auf der Bühne und erfindet gemeinsam mit dem Publikum etwas, was er oder sie selbst nicht ist und nie sein kann: die Figur. Sie ist diese geheimnisvolle Sache, um die es für Schauspielerinnen und Schauspieler geht und die doch physisch nicht vorhanden ist.
Nur im mentalen Raum wird etwas präsent, was im physischen Raum, auf der Bühne, nicht existiert. Deshalb können zum Beispiel Tote auftreten, Morde geschehen, ohne dass Opfer zurückbleiben, die Welt neu erschaffen werden, ohne dass ein Möbelstück verrückt wird. Für identitätspolitisch orientierte Kulturfreunde also die schlechte Botschaft: Was da im mentalen Raum vor Augen tritt, ist ontologisch unterschieden von der oder dem, die oder der da auftritt. Keine Politik und keine Religion kann das ändern, es sei denn, sie schafft das Spiel ab.

Die Schauspielerei war nie wirklich frei

Aber, Achtung Triggerwarnung: Das Spiel ist nie frei, sondern immer auch ein Spiegel von herrschenden Geschlechterrollen, von Bildern, wie Frauen sich bewegen, wie Männer. Das Spiel war noch nie frei von der Geschichte der Unterdrückung von Minderheiten, nie frei zum Beispiel von der Geschichte des Rassismus oder der Sklaverei. Macht, Politik und Geschichte kleben am spielenden Körper wie eine Hautfarbe, die sich nicht abwaschen lässt. Weil der Körper nicht frei sein kann, bekommt er auch kein wirklich freies Spiel hin.
Die identitätspolitische Sichtweise lässt sich nicht so einfach vom Tisch wischen. Blackfacing zum Beispiel ist und bleibt ein Problem. Und natürlich schränkt heteronormatives Denken in Casting-Abteilungen die Sichtbarkeit zum Beispiel von Menschen mit queerer Lebenspraxis ein, bleibt die Diversität in Film, Fernsehen und Theater hinter der realen Diversität auf der Straße zurück.

Das Problem an der "authentischen Besetzung"

Die politische Dimension allen Spiels trifft das Kino härter als das Theater, denn hier verschmelzen der Körper der Akteurin oder des Akteurs und das Lichtspiel seiner Figur noch stärker als auf den knarzenden Bühnenbrettern. Hollywood, Kernstück der internationalen Traumfabrik, ist außerdem im Herkunftsland des "Wokismus" und der sozialen Netzwerke schon seit Jahren auf „authentische Besetzung“ bedacht – darauf, dass zum Beispiel nur schwule Schauspieler schwule Figuren verkörpern dürfen. So, als wären Schauspielerinnen und Schauspieler Abgeordnete im Parlament der Minderheiten.

Es herrscht die Vorstellung, die Akteurin oder der Akteur spreche für eine Gemeinschaft. So als müssten Film und Theater das kompensieren, was der Politik offensichtlich abhandengekommen ist: Für andere sprechen, für andere entscheiden, Abbild der Gesellschaft und ihrer Denkströmungen sein.

Im Fall der Helen Mirren fließt das alles zusammen: Wenn es um eine Figur der Weltgeschichte geht wie Golda Meir, dann legt sich die Schauspielerin ja mit einem realen Mythos an: einer ganzen Welt von schon existierenden mentalen Räumen, Bildern, Repräsentationen. Ein Raum voller Politik, bevor die Kunst ins Spiel kommt.

Das Zauberwort heißt Empathie

Und doch ist das identitätspolitische Argument, eine nichtjüdische Akteurin könne keine jüdische Politikerin verkörpern, nicht grundsätzlich hinnehmbar. Auch wenn diese Debatte unter anderem im englischen Fernsehen unter dem Schlagwort „Jewfacing“ schon seit einigen Jahren geführt wird. Was würde in Deutschland passieren, wenn die Jewfacing-Debatte dieses Land erreicht – den deutschen Fernseh-, Theater- und Filmbetrieb?
Jüdische Kulturbeobachter haben Helen Mirren, der Trägerin des jüdischen Filmpreises von 2015, eine große Sensibilität für das Jüdischsein bescheinigt, und die sei entscheidend. Ein Schauspielkollege nannte es einen dystopischen Albtraum, wenn künftig für das Casting jüdischer Figuren jüdische Papiere vorgelegt werden müssten. 
In der Kunst geht es nicht um die ethnische Zugehörigkeit zu einer Volksgemeinschaft, sondern um die grundsätzliche Fähigkeit, sich in das Denken und Fühlen einer Figur hineinzuversetzen. Und im Fall von Helen Mirren auch um die grundsätzliche Fähigkeit des Kinopublikums, mit der Akteurin gemeinsam Golda Meir vor dem geistigen Auge auftreten zu lassen. Das ist eben Empathie.

Und hier wird auch eine Schwäche des identitätspolitischen Arguments deutlich: Die Forderung nach der sogenannten „authentischen Besetzung“ macht auf halber Strecke halt: Wenn es Helen Mirren an Jüdischsein fehlen soll, um Golda Meir zu spielen, wie soll denn dann das nichtjüdische Kinopublikum in der Lage sein, eine jüdische Politikerin zu verstehen, egal ob eine Jüdin sie spielt oder nicht? Wenn Empathie im ersten Fall nicht ausreichen soll, dann doch sicher auch nicht im zweiten.

Spielerisch erforschen, was man nicht schon ist

Die völlig richtige Forderung nach Sichtbarkeit im Bühnen- und Filmbetrieb darf nicht nach biologischen, ethnischen oder identitären Kategorien bemessen werden, sondern nach der Macht der Vorstellungswelten, die Darstellende hier erzeugen. Denn sonst geht eine elementare Kraft des Schauspiels verloren: Die Reibungsenergie, die entsteht, wenn der Mensch spielerisch das erforscht, was er eben nicht schon ist.

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