Jia Tolentino: "Trick Mirror. Über das inszenierte Ich"
Aus dem amerikanischen Englisch von Margarita Ruppel
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021
368 Seiten, 22 Euro
Raus aus der Selbsttäuschung
06:18 Minuten
Sich im Internet zu bewegen, führe unweigerlich zu Selbsttäuschungen, warnt die Bestseller-Autorin Jia Tolentino in ihrem Essayband "Trick Mirror". Doch auch der Feminismus verwickle sich allzu oft in Widersprüche.
Jia Tolentino ist das, was man sich unter einem typischen Millennial vorstellt. Geboren Ende der 1980er-Jahre, gut ausgebildet, technikaffin. Im Alter von zehn wird das Netz ihr zweites Zuhause. Sie schreibt Tagebuch, diskutiert in Foren über Meteorologie und Rezepte, schließt Freundschaften. Das alle Verbindende: "die Freiheit, online wir selbst zu sein."
Kommerzielle Auswüchse des Internets
Zwanzig Jahre später ist von der Freiheit nichts mehr übrig. Es sei ein Habitat der Selbstdarstellung geworden, kritisiert die Amerikanerin die kommerziellen Auswüchse des Internets. Das Problem: Ein Großteil ihres Lebens lasse sich davon nicht mehr trennen.
Doch wie umgehen mit dem Konflikt, etwas als falsch zu erkennen und gleichzeitig darin verstrickt zu sein? Ihre "Verwirrung" darüber schüttelt Jia Tolentino schreibend ab. Neun Essays hat sie zwischen Frühjahr 2017 und Herbst 2018 verfasst. Alle drehen sich um soziale Phänomene, die eine Art Widerhaken in sich tragen: Sie erscheinen auf den ersten Blick als Fortschritt. Praktisch aber sind sie voller Widersprüche. Die "Selbsttäuschungen", die das produziert, will Tolentino offen legen. Und das macht sie brillant.
Kluft zwischen Schein und Sein
Etwa wenn sie analysiert, welchen Verzerrungen das "Ich im Internet" unterworfen ist. Fünf Mechanismen trügen dazu bei, dass es unmöglich sei, dort als vollständige Person zu interagieren. Am wichtigsten: Das Identitätsgefühl – die Festlegung auf eine Gruppe – werde aufgebläht, dazu angestachelt, die eigene Meinung überzubewerten, der Wunsch zu polarisieren werde maximiert. Die Folgen: Fehleinschätzungen und das Unvermögen, gesellschaftliche Missstände wirksam zu bekämpfen.
Die Kluft zwischen Schein und Sein, die Jia Tolentino aufzeigt, hat aber nicht
ausschließlich mit dem Internet zu tun. Die Starautorin, die hauptsächlich für den "New Yorker" arbeitet, sieht als Motor das kapitalistische Profitstreben generell. Und so schreibt sie über Schönheitswahn und den Zwang zur körperlichen Selbstoptimierung, dem sie selbst auch verfallen war. Oder nimmt das (uneingelöste) Versprechen von Hochzeiten in den Blick. Dieses glamouröse Ritual lassen sich Amerikaner bis zu 30.000 Dollar kosten, rechnet Tolentino vor – um dann in den alten Geschlechterrollen weiterzumachen.
ausschließlich mit dem Internet zu tun. Die Starautorin, die hauptsächlich für den "New Yorker" arbeitet, sieht als Motor das kapitalistische Profitstreben generell. Und so schreibt sie über Schönheitswahn und den Zwang zur körperlichen Selbstoptimierung, dem sie selbst auch verfallen war. Oder nimmt das (uneingelöste) Versprechen von Hochzeiten in den Blick. Dieses glamouröse Ritual lassen sich Amerikaner bis zu 30.000 Dollar kosten, rechnet Tolentino vor – um dann in den alten Geschlechterrollen weiterzumachen.
Irrwege des Feminismus
Und: Es geht um Irrwege des Feminismus. Wie gefährlich man sich in Widersprüchen verstricken kann, zeigt Tolentino sehr erhellend anhand von Debatten über das Aussehen von Melania Trump, Hope Hicks und Kellyanne Conway, allesamt einst Unterstützerinnen von Präsident Trump. Aus dem feministischen Reflex heraus, Frauen vor Kritik zu schützen, die sich auf ihren Körper beziehe, werde auch auf jede inhaltliche Kritik verzichtet.
Zwar hat Jia Tolentino keine Lösungen für all die Zwickmühlen parat. Ihre Analyse aber ist so scharfsinnig, dass man lernt, genauer hinzusehen. Und die Fragen, die sie stellt – Was wollen wir vom Internet bekommen und wie viel dafür im Austausch geben? Oder: Sollte Schönheit vielleicht weniger wichtig werden? – diese Fragen könnten aus dem Dilemma herausführen.