Bücherschatz im Busbahnhof
Nur wenigen Menschen ist heute noch bewusst, wie viel in Jiddisch geschriebene Literatur es einmal gab. In Tel Aviv setzt sich ein Mann dafür ein, dass dieser vergessene Kulturschatz wieder allen zugänglich gemacht wird. In zentraler Lage.
Levinsky-Straße Tel Aviv. Dort, wo die Stadt im Süden an Jaffa grenzt, steht die neue zentrale Busstation. Von morgens bis tief in die Nacht hinein herrscht hier "Balagan" – ein buntes, lautes Durcheinander: Ultra-Orthodoxe mit schwerem Gepäck und vielen Kindern hasten zu ihrem Bahnsteig, palästinensische Jugendliche essen Falafel und spielen mit ihren Smartphones herum, Soldatinnen schlendern mit lose über der Schulter baumelnden Gewehren zwischen den Verkaufsständen mit chinesischen Billigwaren umher. Mitten drin steht Mandy Cahan, Jahrgang 1963, schmales Gesicht, blitzende Augen, weißes Hemd, schwarze weite Hose – eine Theatergestalt.
"Es ist eine riesige Struktur, ich glaube die größte Busstation der Welt. Und wir, das Yung Yidish Book Museum sind auf dem fünften Stock – in der Ecke einer Ecke dieses kafkaesken Escher-Traumes...."
Mandy Cahan ist Gründer und Betreiber des Yung Yidish Book Museums. Höchstpersönlich geleitet er seine Besucher, heute eine Gruppe amerikanischer Studenten, durch die labyrinthischen Gänge zum Studio 5008.
"Ich bin sehr glücklich, dass ihr hier seid. Etwa 40.000 jiddische Bücher erwarten euch hier, die in 20 Jahren von Freiwilligen gesammelt wurden. Ich habe dieses Projekt vor 20 Jahren begonnen, weil ich mir dachte: Wir haben unsere jiddische Kultur 1000 Jahre mit durch die Diaspora getragen – nun, da wir ein eigenes Land haben, sollten wir Jiddisch mit einen guten Platz geben, damit es sich ausruhen kann, zu Atem kommen kann...."
Eine Bibliothek zum Anfassen
Ein guter Platz für Bücher? Jeder deutsche Bibliothekar würde beim Eintritt in Mendy Cahans Buch-Museum, das er hier seit dem Jahr 2006 betreibt, wahrscheinlich in Ohnmacht sinken: In dem liebevoll dekorierten Beton-Gewölbe stapeln sich 200 Jahre alte Enzyklopädien und Zeitungsbände in baufälligen Regalen. Ein Springbrunnen in einem Plastikboot plätschert vor sich hin, ein hölzernes Karussellpferd lehnt an einer alten Nähmaschine und aus Doubletten seiner Bücher hat Cahan auf der kleinen Bühne an einem Ende des Raumes eine meterlange Kunstinstallation gebaut. Und über das Dach donnern mit lautem Motorengeräusch die Busse und lassen Bücher, Regale und Tische jedes Mal erbeben. Grinsend zündet sich Mendy Cahan eine Zigarette an:
"Dieser Ort ist ein bisschen im Zwielicht. Ist es eine Bibliothek? Ist es ein Museum, ein Archiv, ein kulturelles Zentrum? Ist es traditionell oder avantgarde?...
"Es ist ein ganz besonderer Ort. Ich habe gerade meinen Master an der Universität von Oxford beendet: Dort haben sie 5000 Bücher mit tausenden von Dollars Unterstützung hinter sich. Hier haben wir 40.000 Bücher und null finanzielle Unterstützung."
Ariel Resnikoff ist einer der ehrenamtlichen Helfer Cahans, ohne die er sein gigantisches Archiv nicht erhalten könnte. Der junge Amerikaner mit russisch-jüdischen Wurzeln hilft bei Ausstellungen, Lesungen und beim Auspacken der Kisten, die noch zu Hunderten verschlossen in einem Teil des Archivs lagern.
Resnikoff erzählt, wie er hier unlängst den Band "Gesammelte Lieder" von Michel Licht gefunden hat – vergessene Gedichte eines vergessenen jiddischen Dichters. Für ihn als Übersetzer ein echter Schatz. Mendy Cahan hat in seinem Buch-Museum schon viele solcher Schätze ans Tageslicht geholt:
"Die nationale Universitätsbibliothek in Jerusalem hat die meisten dieser Bücher. Aber sie sind in einem Bunker, gut bewacht. Keine Bombe, kein Feuer kann sie berühren. Aber sie sind von der Öffentlichkeit sind sie verschwunden. Und mir ist es wichtig, dass sie in der Öffentlichkeit sind."
Auch in Israel Jiddisch erleben
Cahan möchte, dass man auch in Israel Jiddisch erleben kann – so wie er selbst mit dem Jiddischen aufgewachsen ist. Es war die Sprache seiner Eltern, rumänische Überlebende des Holocaust, die nach dem Krieg zunächst in ihre Heimat zurückkehrten. Anfang der 60er Jahre gelang es ihnen, in den Westen auszureisen, ihr Ursprungsziel, Israel aber erreichten sie nicht, sondern strandeten in der großen orthodoxen Gemeinde im belgischen Antwerpen.
"Sie waren einfach zu erschöpft vom Reisen, von den vielen Wechseln und vom Überleben. Außerdem fand mein Vater Leute von früher wieder – sie alle sprachen Jiddisch und so wuchs ich Jiddisch auf."
Mit Jiddisch – aber auch mit Flämisch, Holländisch, Französisch, Englisch und Hebräisch. Naheliegenderweise beschloss Cahan, Komparatistik zu studieren – vergleichende Literaturwissenschaft. In der Jiddish-Bibliothek der Hebräischen Universität von Jerusalem hatte er plötzlich ein Aha-Erlebnis:
"Ich erinnere mich genau, wie ich an einem Microfiche-Gerät saß und alte Texte aus einer Zeitung von 1880 las. In dem Augenblick wurde mir plötzlich klar: Der Holocaust war erfolgreich. ...Und mich erschreckte: Wenn nicht einmal ich davon weiß, der ich ja sogar jiddisch spreche – wie wenig wissen dann erst die anderen Menschen?"
Plötzlich habe er verstanden, wie viel vom jiddischen Alltag aber auch von intellektuellen Diskursen verloren gegangen sei.
Cahan stellt in seinem Archiv nicht nur Bücher zur Verfügung. In Jerusalem unterhält er eine Kleinkunstbühne, auf der allwöchentlich Klezmer gespielt wird. Und in Tel Aviv veranstaltet er Lesezirkel. An diesem Abend trägt er Eisenbahn-Geschichten von Scholem Alejchem vor. Jeder Besucher erhält ein Buch zum Mitlesen – schwierige Wörter werden in der Runde erläutert. Danach setzt sich Polina Belilovsky an das Elektropiano auf der Bühne:
Es dauert etwas, bis die vor einigen Jahren aus Russland eingewanderte Musikerin das Eis gebrochen hat. Nur wenige kennen noch die Texte und Melodien der alten Weisen. Aber dann singen sie doch das Liedl vom Jidl mitn Fidl. Zögerlich zunächst, dann immer sicherer. Das sind die Augenblicke, in denen Mendy Cahan ganz in seinem Element ist und Yung Yidish alles auf einmal ist, was er sich erträumt: Museum, Theater, Begegnungsstätte und Zukunftsort.