Jihadisten aus Tunesien

Die verlorenen Kinder

Eine Mutter in Tunesien zeigt das Bild ihres Sohnes in die Kamera. Sie steht im Wohnzimmer.
Nejis Mutter zeigt das Bild ihres getöteten Sohnes, der in Syrien gekämpft hat. (Foto: Anne Françoise Weber) © Anne Françoise Weber
Von Anne Françoise Weber |
Schätzungen zufolge sollen sich 5.000 Tunesier terroristischen Gruppierungen in Syrien, Irak und Libyen angeschlossen haben. Warum verlassen die jungen Männer das "Musterland" des Arabischen Frühlings, das nach dem Sturz des Diktators Ben Ali den friedlichen Übergang zur parlamentarischen Demokratie geschafft hat? Und was geschieht mit den Rückkehrern?
In einem kargen Raum in Douar Hicher, einem Vorort von Tunis, sitzt eine Handvoll junge Leute um weiße Plastiktische. Sie streiten darüber, warum sich Gleichaltrige entschließen, in den Krieg nach Syrien zu ziehen.
"Du sagst, die Jungs in unserem Viertel gehen wegen der Armut nach Syrien, damit sie von dort Geld an ihre Familie schicken. Aber wir haben hier im Viertel nicht so eine Armut, dass man nicht leben könnte. Warum ziehen manche in den Jihad und andere versuchen, mit einem kleinen Projekt Schritt für Schritt eine Existenz aufzubauen? Das ist eine Frage der Mentalität, nicht mehr und nicht weniger. Das ist keine Frage der Armut."
Sarra Chrayet ist sich da sicher. Schließlich hat die 30-Jährige, deren lange glatte Haare ihr rundes Gesicht mit dem sorgfältigen Make-up umrahmen, es geschafft, ein kleines Unternehmen aufzubauen; Windschutzscheiben und Türglas verkauft sie. Auf dem Tisch liegen Kalender mit Werbung für ihr Unternehmen.

"Viele aus meinem Viertel sind nach Syrien gegangen"

Saber Farjali widerspricht ihr vehement. Der ebenfalls Dreißigjährige mit der Baseballkappe auf dem Kopf und der dicken Kette um den Hals hat genug Ideen, was er mit seinem Leben machen will. Er schreibt Rapsongs, macht Videoclips und stellt sie auf Youtube. Trotzdem:
"Ich bin zum Beispiel so ein junger Mensch. Ich habe keine Zukunft. Ich habe kein Studio, kein Projekt. Ich würde gern heiraten, eine Familie gründen. Das geht nicht. Alles ist verloren. Was soll ich tun? So kommt jemand dazu, an Syrien zu denken. Oder an Italien, ans Leben ohne Papiere dort. Da würde ich gern hingehen, ich habe es oft probiert und wurde oft aufgegriffen. Ich habe zwei Brüder zuhause und meine Mutter. Alle drei sind arbeitslos. Wenn mir jetzt jemand ein Angebot machen würde, in Syrien Geld zu verdienen und nachhause zu schicken, würde ich das machen. Damit es der Familie gut geht. Viele Jungs aus meinem Viertel sind nach Syrien gegangen und dort gestorben."
Dann spielt Saber den anderen einen seiner Rapsongs auf YouTube vor. Er singt sich darin die Wut auf dieses Land, auf die Armut, auf die Polizei von der Seele, und macht einige unanständige Gesten.
Auch ein paar Kids aus dem Viertel filmt er, die den Mittelfinger zeigen – Sarra ist sichtlich schockiert.
"Entschuldige mal: Du kannst ja singen, der Text ist in Ordnung. Aber mach nicht diese unanständigen Gesten – den Clip sehen doch auch Frauen, Mädchen, kleine Kinder... Ich sehe das nicht als Lösung."
Saber wehrt sich, erklärt, dass das in seine neueren Stücken nicht mehr vorkommt. Andere springen ihm bei. Solche Gesten gehörten nun mal zum Rap. Entscheidend sei doch, dass er seine Gefühle ausdrücke. Dass die nach Sarras Aufforderung, den Clip zu löschen, nicht besser geworden sind, steht Saber ins Gesicht geschrieben. Er erzählt noch, dass ein Freund ihn aus Italien angerufen habe. Man könne dort gut leben, habe er gesagt – in Deutschland sei es schwieriger.
Zusammengebracht hat die jungen Leute in diesem neuen Jugendklub in einem Vorort von Tunis Adnen Hasnaoui. Der untersetzte Mann mit dem freundlichen Lächeln ist der Gründer und Präsident der Nichtregierungsorganisation Imded, dem "Maghreb-Institut für nachhaltige Entwicklung".
Ein älterer Mann mit vier jüngeren Tunesiern vor einem Hauseingang.
Adnen Hasnaoui (links) will den jungen Leuten in Douar Hicher mit einem Jugendclub Möglichkeiten zum Austausch bieten.© Anne Françoise Weber
Das Institut will jungen Leuten das Handwerkszeug geben, um ihre Situation zu verbessern, sich politisch zu engagieren und sich vor den Anziehungskräften des Terrorismus zu schützen. Diese seien besonders in armen Vierteln wie Douar Hicher groß.
"Es gibt junge Leute in Syrien, Libyen oder Irak, die junge Leute hier in Tunesien anrufen und ihnen sagen: Wir haben es geschafft, wir haben Geld und dies und das. Mehr noch, viele Studien zeigen, dass ihren Familien Geld gegeben wird. Die gleichen Methoden wie bei Drogenbanden in Italien und anderswo. Die, die weggehen, bringen ihren Familien also viel Geld, deswegen denken die anderen auch über illegales Auswandern nach. Es funktioniert nach der gleichen Logik, ob sie nun richtig ist oder falsch. Sie zieht bei den jungen Leuten und lässt sie mit der einen oder anderen Gruppierung weggehen."
Religion hält Adnen Hasnaoui dagegen nicht unbedingt für den ausschlaggebenden Faktor. Einige seien auch vorbestrafte Kleinkriminelle, deren Erfahrungen mit Drogenhandel, Diebstahl und Gewaltverbrechen die Terroristen ausnutzen würden. Besonders religiös würden diese Rekruten auch nach dem Eintritt in die jihadistischen Gruppen nicht.

Schätzung: 5.000 Tunesier in den Krieg ausgereist

Tunesische Behörden gingen 2015 von 3.000 Tunesiern aus, die nach Syrien, Libyen oder in den Irak gezogen sind, eine Studie der Vereinten Nationen sogar von 5.000. Viel größer noch dürfte die Zahl derer sein, die mit dem Gedanken spielen, besonders in den armen Vorstädten und den armen Landesteilen Tunesiens.
Eine Straße in einer Vorstadt von Tunis mit Obst-Geschäften, Autos und Menschen.
Douar Hicher ist eine der ärmeren Vorstädte von Tunis - viele jüngere Tunesier sehen hier keine Perspektive.© Anne Françoise Weber
Allein in Douar Hicher hätten die Sicherheitsbehörden rund 1.000 Menschen als potentielle Terroristen eingestuft. Ob sie es wirklich alle sind, bezweifelt Adnen Hasnaoui. Aber jedenfalls sei es der falsche Weg, wenn die Polizei sie und ihre Familien bedrohe und misshandele – so würde man nur noch mehr Menschen in die Arme der Terroristen treiben. Issam Rahali – ein junger Kleinunternehmer, der mit seinem Hemd und Sakko in der Runde auffällt - ergänzt:
"Wenn man nun weiß, dass es tausend angebliche Terroristen unter Überwachung gibt: Warum kümmern wir uns nicht um sie, damit sie gut leben können und sich ihr Denken ändert? Warum bedrängen wir sie mit Polizeikontrollen? Nachher gibt es noch einen Anschlag in Tunesien. Aber wenn man ihnen Arbeit geben würde, eine gute Ausbildung, wenn wir ihnen Psychologen schicken würden, die mit ihnen, ihren Familien, ihren Müttern sprechen würden, dann würden sie zum Vorbild für andere. Man müsste sie fragen: Warum willst du Böses tun? Wie bist du dahin gekommen? Man spricht von 1.000. Ich sage, es gibt 5.000 in Douar Hicher, die so denken. Diese Schläferzellen gibt es, das kann man nicht leugnen."
Gerade mal drei Kilometer vom Jugendzentrum in Douar Hicher entfernt liegt das Institut für Sportwissenschaften im Vorort Ksar Said. Es ist umgeben von einem etwas wild geratenen Park, in dem sich Vogelzwitschern mit dem Lärm der nahen Schnellstraßen vermischt. Junge Menschen in Sportkleidung sind auf dem Weg in ihre Lehrveranstaltungen. 60 Jahre schon gibt es das Institut, so verkündet es ein riesiges Plakat an einem der weißen Gebäude.
Der Direktor des Instituts, Hafsi Bedhioufi, wirkt mit seiner Lederjacke und den halblangen Haaren entspannt und zugewandt.
Hafsi Bedhioufi hat längere Haare, lacht und steht vor einem Plakat mit Laufschuhen.
Hafsi Bedhioufi versucht seine Studierenden vor der Anwerbung durch Jihadisten zu schützen.© Anne Françoise Weber
Er scheint seine Studierenden gut zu kennen – und weiß von mindestens 15, die nach Syrien oder in den Irak gezogen sind. Von manchen weiß er auch, dass sie sich in Bagdad oder in Syrien in die Luft gesprengt haben.
"Man weiß genau, dass die jihadistischen Gruppen junge, gesunde, sportliche Menschen rekrutieren, vor allem solche, die Kampfsportarten praktizieren, die können sie brauchen. Wir sind hier wirklich davon betroffen, oder wir waren es. Jetzt höre ich weniger davon, entweder weil das eine Strategie ist oder weil es wirklich weniger Rekrutierungen gibt. Aber unsere Studenten sind durch ihre Lebensumstände, durch ihren Sport, durch schlechte Erfahrungen in Sportvereinen sehr verletzlich geworden; und nicht wenige wurden von Jihadisten rekrutiert."
Der Institutsdirektor Bedhioufi weiß auch von denen, die angesprochen wurden, die auf dem Weg sind, sich zu verabschieden. Hier versucht er zusammen mit Studenten, Soziologen und Psychologen zu intervenieren. Freizeitaktivitäten anzubieten und ein kulturelles Angebot zu schaffen – auch für Vereine aus den angrenzenden benachteiligten Vierteln.
Viele seiner Studenten, die eigentlich aus anderen Teilen Tunesiens kommen, wohnen auch in diesen Vierteln – und werden dort bisweilen von Terroristen angesprochen - nach dem Gebet oder bei der Wohnungssuche.

"Jihadisten wollen Vergangenheit und Liebe abtrennen"

Hafsi Bedhioufi hat über die Jahre einen Blick dafür entwickelt, wer auf dem Weg in den Jihadismus ist. Ein erstes Anzeichen sei die Isolation, die Verweigerung des – am Sportinstitut häufigen – Körperkontakts, danach kämen die radikalen Äußerungen. Spätestens dann geht Bedhioufi auf so einen Studenten zu.
"Wir versuchen zuerst, mit ihnen zu diskutieren. Nicht über Jihadismus, sondern darüber, was sie machen, was ihn stört. Unsere größte Aufgabe ist, sie wieder in die Gesellschaft zu bringen. Denn der erste Schritt der Jihadisten besteht darin, das Individuum von seiner Vergangenheit abzutrennen, es zu isolieren, einen Strich zu ziehen zu allem, was emotional ist, was mit Liebe zu tun hat. Wir versuchen dagegen, den Menschen wieder mit seiner Vergangenheit zu verbinden."
Auch wenn der Sport-Instituts-Direktor materielle Gründe für nicht unwichtig hält, sieht er noch ein fundamentaleres Problem:
"Es gibt natürlich eine materielle Verzweiflung. Aber andererseits geht es auch um Selbstbestätigung. Ein junger Mensch sieht im Jihadismus Ruhm. Und normalerweise haben die jungen Tunesier keinen Plan für ihr Leben, sie leben im Augenblick. Sie sind eine leichte Beute. Wenn man kein Lebensprojekt hat, ist die Religion wichtig, weil sie ein Projekt im Jenseits verspricht. Wir versuchen dagegen, im Hier und Jetzt zu arbeiten. Und das ist oft nicht so überzeugend. Das Erste, was uns oft entgegenschlägt, sind die Fragen: Kannst du meine materielle Situation verbessern? Kannst du mir einen Job geben? Kannst du meiner Familie helfen? Solche Forderungen. Außerdem gibt es eine sexuelle Frustration. Das spielt auch eine große Rolle. Alles ist verboten. Letztlich bietet diese Gesellschaft den jungen Leuten nur Frustration. Und was ist der Ausweg? Der Extremismus in all seinen Spielarten."

2011-2014 wurden Salafisten nicht die Grenzen aufgezeigt

Ortswechsel: Mehrezia Labidi sitzt in Flur des tunesischen Parlaments und telefoniert. Die 53-jährige gelernte Dolmetscherin war vorher in einer Ausschuss-Sitzung im Parlament, in der es um den neuesten Bericht von amnesty international über Misshandlungen und Folter durch Sicherheitskräfte in Tunesien ging.
Kein neues Phänomen – schon unter Diktator Ben Ali vor 2011 wurden ähnliche Verbrechen begangen. Die Taten werden gerade von der "Instanz für Wahrheit und Würde" aufgearbeitet. Dafür hat sich besonders auch die Partei Ennahda von Mehrezia Labidi eingesetzt. Waren viele Parteimitglieder doch Opfer unter Ben Ali.
Nach dessen Sturz wurden die Gefängnisse geöffnet, viele unschuldig Inhaftierte kamen frei – aber auch so mancher, der die neu gewonnene Freiheit nutzte, um extremistische Ideologien zu verbreiten. Besonders in der Zeit der von Ennahda geführten Drei-Parteien-Regierung von Ende 2011 bis Anfang 2014, darin sind sich viele Tunesier einig, habe man den Salafisten nicht klar genug die Grenzen gezeigt, sondern zumindest geduldet, dass sich auch jihadistische Strömungen etablierten.
Die meisten der Ausreisen nach Syrien, Libyen und in den Irak fallen in diese Zeit. Die Abgeordnete Mehrezia Labidi kennt diese Vorwürfe, und antwortet vorsichtig darauf:
"Ich glaube nicht, dass es bewusste Nachlässigkeit war, eher mangelnde Wachsamkeit aufgrund einer mangelnden Kenntnis des Terrains. Danach hat man Erfahrungen gesammelt. Und jede Regierung hat auf die Maßnahmen der Vorgängerregierung aufgebaut: Die Kontrolle über die Moscheen, ihre Wiederaufnahme in den Raum der Republik, der Übergang im Kampf gegen den Terrorismus von einer defensiven zu einer offensiven Haltung. Unsere Sicherheitskräfte, unsere Armee holen jetzt die Terroristen aus den Bergen, aus ihren Verstecken. Und auch die Verbesserung der Fähigkeiten unserer Sicherheitskräfte im Hinblick auf Ausrüstung, Training und Strategie."
Labidi glaubt gar nicht, dass noch viele junge Leute aus Tunesien nach Syrien ausreisen. Zu gut seien die Kontrollen an den Flughäfen, zu gut schon die Präventionsarbeit. Übrigens, so betont sie, seien viele der heute im Ausland kämpfenden Tunesier schon längst vor der Revolution 2011 ausgereist. Ihr ist aber klar, dass auch die Rückkehrer ein Problem darstellen. Etwa 800 sollen es bisher sein und viele werden folgen, da ist sich die Ennahda-Abgeordnete sicher.
"Sie werden sich nicht in eine Schlange stellen und rufen: Hallo, wir kommen zurück. Sie werden illegal einreisen, wie sie illegal ausgereist sind. Wir müssen das Problem gemeinsam angehen, mit einem umfassenden Programm. Zunächst das juristische Arsenal: Wir sind ein Rechtsstaat und müssen das bleiben. Denn der größte Gewinn des Terroristen ist, wenn wir genauso denken und handeln wie er und uns seiner Barbarei und seiner Verachtung des Menschen anschließen. Also, wie können wir bei aller Entschiedenheit ein Rechtsstaat bleiben? Wenn man inhaftieren muss, inhaftieren wir, wenn man überwachen muss, überwachen wir, wenn man rehabilitieren muss, rehabilitieren wir. Und wir müssen Informationen mit den Durchgangsländern zum Beispiel in Europa austauschen."
Die Regierungspolitikerin Mehrezia Labidi steht also nicht auf der Seite derer, die mit mehreren Demonstrationen viel Aufmerksamkeit erregten: Lautstark lehnten Demonstranten vor wenigen Monaten eine Rücknahme von tunesischen Extremisten grundsätzlich ab und kamen damit weltweit auf die TV-Bildschirme – völkerrechtlich lässt sich das aber kaum durchsetzen.

Rückkehrern droht Haft und Misshandlungen

Menschenrechtsorganisationen warnen davor, dass Rückkehrer, die unter Terrorismusverdacht stehen, gleich in Haft kommen könnten und nicht unbedingt Chancen auf einen gerechten Prozess hätten. Amna Guellali von Human Rights Watch weiß, dass gerade in der tunesischen Untersuchungshaft Misshandlungen und Folter keine Seltenheit sind.
"Erstens will die Polizei Geständnisse erzwingen, um so einen Beweis für die Beteiligung dieser Personen an terroristischen Taten zu haben. Dafür wird auch auf Misshandlungen und Folter zurückgegriffen. Außerdem empfinden die Polizisten und Sicherheitskräfte Wut und Verachtung angesichts der Taten, derer diese Personen verdächtigt werden. Deswegen gibt es einen Wunsch nach Rache, der sich in Misshandlungen ausdrückt."
Und ganz wie zu diktatorischen Zeiten Ben Alis sind auch die Familienangehörigen nicht vor dem Zugriff der Sicherheitsbehörden sicher, sagt die schmale, energische Menschenrechtsaktivistin.
"Das Willkür- und Unrechtssystem zielt nicht nur auf die Personen, die des Terrorismus beschuldigt sind, sondern auch auf ihre Angehörigen und die Eltern. Die Familien können Mobbing erleben. Es wird starker Druck auf die Familien ausgeübt, um Druck auf das Individuum zu machen und auch um sich zu rächen. Man will diese Familien bestrafen, im Glauben, sie hätten ein Monster hervorgebracht."

Er scheint ein Mustersohn gewesen zu sein

Es ist nicht einfach, eine solche Familie zu treffen. Viele Tunesier behaupten, keine Angehörigen von Jihadisten zu kennen – oder jedenfalls niemanden, der darüber offen sprechen würde. Wer will schon zugeben, dass der eigene Sohn sich Jihadisten angeschlossen hat? Dass er gar sein Leben gelassen hat, für Ideen, von denen die Eltern oft nichts ahnten?
Saida Deli ist so eine Mutter. Freundlich, aber doch zurückhaltend empfängt die knapp Siebzigjährige mit dem zerfurchten Gesicht mich und eine tunesische Kollegin in ihrem Wohnzimmer im kleinen Ort Sbeitla, nur ein paar Kilometer von den Gebirgszügen im Westen Tunesiens entfernt, in die sich terroristische Zellen zurückgezogen haben.
Sie erinnert sich noch genau, wie ihr Sohn Neji sie bat, Datteln und Orangen zu kaufen, wie sie alles in seine Tasche packte, mit der er angeblich in die rund 250 km entfernte Hauptstadt Tunis zum Arbeiten gehen wollte.
"Nach einem Monat sagte mir sein Vater: ‚Dein Sohn ist in Libyen.‘ Was? Warum ist Neji in Libyen, wir dachten, er arbeitet mit seinem Freund. Und einen Monat später rief er mich an: ‚Mama, ich bin in Syrien.‘ ‚Mein Sohn! Komm zurück.‘ ‚‘Von hier kommt man nicht zurück‘, hat er gesagt. Danach hat er immer wieder angerufen, hat gesagt, es gehe ihm gut, er spiele Fußball. Neben ihm lagen Waffen. Ich habe immer an ihn gedacht. Bis zu dem Tag, als sein Bruder eine Woche nach seiner eigenen Hochzeit zu mir in die Küche kam und sagte: Neji ist tot."
Die Eltern traf Nejis Abreise völlig unvorbereitet. Anscheinend war ihnen davor nichts aufgefallen, keine neuen, seltsamen Freunde, kein besonderer Gebetseifer, keine politischen Diskussionen – Neji scheint ein Mustersohn gewesen zu sein.
"Jedes Jahr hat er die Prüfungen mit Auszeichnung bestanden. Sein Vater hätte ihm auch das Studium weiter finanziert, wenn er hier in Tunesien geblieben wäre. Bis heute hätte er studieren können. Lehramt und Maschinenbau hat er nacheinander studiert."
Immer wieder macht Saida Deli Pausen, in denen sie gegen die Tränen kämpft. Sie holt zwei Bilder ihres Sohnes – fast kahlrasierter Schädel, große Augen – sollte man seinen Blick stechend nennen? Sein Mund gleicht dem seiner Mutter.
"Gott schenke uns Geduld. Wir haben ihn sehr geliebt, aber er ist zu Gott gegangen. Gebe Gott, dass wir uns im Paradies wiedersehen."
Andere haben Nejis Leiche auf Fotos identifiziert, seine Mutter konnte sich das nicht anschauen. Sie weiß auch nicht, wie man andere junge Menschen davon abhalten könnte, nach Syrien oder sonst wohin in den Jihad zu ziehen.
"Gott möge sie führen. Wir können nichts machen. Wer kann die Überzeugungen seiner Mutter, seines Vaters, seines Bruders ändern? Nur Gott kann das. Diese Fragen bringen nichts. Wüsste ich, wer ihn mitgenommen hat, würde ich nicht die Hände in den Schoß legen. Es ist Gottes Wille. Das Gute und das Böse liegen in Gottes Händen, der alles weiß. Gott hat ihn mir gegeben, ich habe mich an ihm gefreut, dann hat er ihn mir genommen."
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