Jill Lepore: "Diese Wahrheiten. Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika"
Übersetzt von Werner Roller
Verlag C.H. Beck, München 2019
1120 Seiten, 39,95 Euro
Die zerstrittene Nation
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In einer brillanten Studie schreibt die Historikerin Jill Lepore die Geschichte der USA von Christoph Kolumbus bis Donald Trump. Sie zeigt darin, dass die aktuelle politische Polarisierung nicht neu ist, sondern die Nation von Anbeginn begleitet.
Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika auf 1100 Seiten: Das ist allerdings ein anspruchsvolles Vorhaben, das die Historikerin Jill Lepore in ihrem Buch "Diese Wahrheiten" verfolgt. Aber sie hat es mit Bravour eingelöst: Sie schlägt weite historische Bögen und fasziniert zugleich mit Nahaufnahmen und Details. Ihre Darstellung ist sprachlich so plastisch, temporeich und intensiv, dass man das dicke Buch am liebsten in einem Rutsch durchlesen möchte, und es gelingt ihr, die gewaltige Fülle des Materials in einer einheitlichen Perspektive zu ordnen, die zugleich direkt in unsere Gegenwart weist.
Ihre Darstellung reicht von der ersten Expedition von Christoph Kolumbus und der Landnahme der spanischen Konquistadoren bis zum Wahlsieg von Donald Trump. Sie erzählt von der Kolonialisierung des Landes und vom Verdrängungskampf der europäischen Siedler gegen die indigene Bevölkerung. Sie erzählt vom Beginn und der Ausbreitung des Sklavenhandels und von dem Bürgerkrieg, der sich an der Frage entzündet, ob man die Sklaverei als legitime Grundlage der Gesellschaft akzeptiert oder nicht – und hunderttausende von Opfern fordert. Sie berichtet von der Industrialisierung und der Modernisierung, vom Siegeszug und Niedergang des Liberalismus – bis zu jenem Zustand der erbitterten Polarisierung, der die US-amerikanische Nation heute prägt.
Eine von Anbeginn tief zerstrittene Nation
Dieser Zustand ist aber nicht neu: Das ist die zentrale These, an der Jill Lepores Historiografie sich entlang bewegt. Seit Beginn ihrer Geschichte – seit den ersten Versuchen, überhaupt so etwas wie ein Gemeinwesen herauszubilden – ist die US-amerikanische Nation tief zerstritten gewesen, zerstritten über "diese Wahrheiten", die Thomas Jefferson 1776 in einem Entwurf der Unabhängigkeitserklärung postuliert: "dass alle Menschen gleich & unabhängig geschaffen sind" und als solche "natürliche & unveräußerliche Rechte besitzen" und dass ihre Regierungen "ihre rechtmäßige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten".
"Diese Wahrheiten" sind die Grundlage jeder demokratischen Ordnung, und für deren Durchsetzung gelten die Vereinigten Staaten bis heute als leuchtendes Vorbild. Aber was bedeuten sie in einem Land, das seinen Wohlstand aus der erbarmungslosen Ausbeutung von Sklaven begründet hat? Und das die "gleichen und unveräußerlichen Rechte" über Jahrhunderte hinweg nur weißen Männern zuerkannt hat? Lepore zeichnet die Debatten und Kämpfe zwischen Befürwortern und Gegnern der Sklaverei nach und blendet immer wieder Szenen aus dem Elend der afroamerikanischen Bevölkerung hinein und aus ihrem Befreiungskampf; auch erzählt sie die Geschichte der Frauenbewegung seit ihren Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum gescheiterten Versuch Hillary Clintons, zur ersten Präsidentin der USA zu werden.
Die Widersprüche der Befreiungsbewegungen
Man findet hier keine gerichtete Geschichte, keinen unabänderlichen Fortschritt der Emanzipation; man findet auch keine überschaubaren Verhältnisse zwischen "guten" und "schlechten" Akteuren. Prominente Befürworter der Abschaffung der Sklaverei waren selbst Sklavenhalter; frühe Feministinnen waren von der Überlegenheit der "weißen Rasse" überzeugt und von der zersetzenden Kraft des Judentums; prägende Vertreter des schwarzen Civil Rights Movement in den 1960er-Jahren waren erbärmliche Sexisten. Lepore fällt selten moralische Urteile. Lieber arbeitet sie – das ist eine der Stärken des Buchs – die Widersprüche heraus, die den jahrhundertelangen Kampf um Freiheit und Gleichheit durchziehen. Und sie zeigt, dass es selbst in den dunkelsten und am meisten verhärteten Zeiten der US-Geschichte immer wieder Menschen, Gruppen, Gemeinschaften gegeben hat, die diesen Kampf von neuem aufnahmen. Und die sich dabei auf "diese Wahrheiten" beriefen, die den Kern der Verfassung ihrer Nation bilden.
Lepore bezeichnet sich selber als Patriotin. In gewissem Sinn entspringt ihr Selbstverständnis jener Haltung, die Jürgen Habermas in den Achtzigerjahren einmal als Verfassungspatriotismus beschrieben hat. Dieser Begriff wird in unseren wieder identitätsseligen Zeiten gern verspottet, als zu schwach und wenig bindungsfähig beschrieben angesichts tief zerstrittener, polarisierter Gesellschaften. Für Lepore ist es die einzige Form des Patriotismus, die angesichts diesen Zustands überhaupt denkbar ist: Nur die Besinnung auf die Gleichheit der Menschen und auf den zwanglosen Zwang des besseren Arguments hält jene Verständigung am Leben, die die Gesellschaft bei allem Streit doch zusammenhält.
Das Pathos dieser Überzeugung trägt wesentlich zum leidenschaftlichen Drive ihrer Darstellung bei. Am Ende bemerkt man gleichwohl mit Beklemmung, wie schwer es ihr fällt, im gegenwärtigen Zustand der US-amerikanischen Öffentlichkeit und Demokratie den Glauben an ihre Selbstheilungskräfte zu wahren.