Jim Holt: "Als Einstein und Gödel spazieren gingen. Ausflüge an den Rand des Denkens"
Aus dem Englischen von Monika Niehaus und Bernd Schuh
Rowohlt Verlag, Hamburg 2020
496 Seiten, 26 Euro
Große Ideen, leicht erzählt
06:10 Minuten
In seinem neusten Essay-Band zeigt der Wissenschaftsjournalist Jim Holt seine Gabe, auch komplizierteste wissenschaftliche Zusammenhänge spannend zu erzählen - mit zahlreichen Anekdoten und viel Witz.
Wenn es um höhere Physik und Mathematik geht, lässt sich die Menge der Erdbewohner dreiteilen: Hier die paar Cracks, die Quantentheorie, Relativitätstheorie und deren Unvereinbarkeit, die Riemannsche Vermutung und Gödels Unvollständigkeitssätze, die Arbeiten Alan Turings und John von Neumanns bis ins Detail verstehen.
Dort die mehr als sieben Milliarden, die bei dieser Materie leider komplett abwinken müssen. Dazwischen jene, die sich auf Cocktailpartys wacker schlagen, wenn Newton, Einstein & Co. ins Spiel kommen. Jim Holts Absicht ist es, sein Publikum in die Cocktail-Klasse zu befördern. Und das gelingt ihm geschmeidig.
Anekdoten, Witz und fesselnder Stil zahlen reichlich auf das Lesevergnügen ein. Andererseits dringt der Philosoph so tief in den Stoff, dass man – bei erhöhtem Energieverbrauch im Oberstübchen – mit der Großartigkeit und den Abgründen physikalischer und mathematischer Theoriebildung nähere Bekanntschaft macht.
Tiefe, Kraft und Schönheit der Ideen
"Als Einstein und Gödel spazieren gingen" präsentiert Texte von Holt aus zwei Jahrzehnten, bei deren Auswahl dem Autor drei Aspekte wichtig waren: die "Tiefe, Kraft und Schönheit der Ideen", der "menschliche Faktor" und die Verbindung der Ideen mit unserem basalen Konzept von der Welt (Metaphysik), vom Wissenserwerb (Erkenntnistheorie) und von der richtigen Lebensführung (Ethik).
Ein großes Programm – nachträglich formuliert. Entscheidender ist die Qualität der einzelnen Essays, und die ist funkelnd. Als sich Albert Einstein und der Logiker Kurt Gödel – er hatte "unter Experten einen geradezu göttergleichen Status" – ab 1942 in Princeton anfreunden, ist das ein Gipfeltreffen unter Geistesriesen.
Holt rekonstruiert ihre möglichen Gesprächsthemen: Quantentheorie und Politik, das Problem der absoluten Zeit, die Grenzen logischer Systeme. Und eine Frage, die über 500 Seiten virulent bleibt: Besitzt die Mathematik eine robuste Realität, die auch ohne Mathematiker existiert (wie Platoniker à la Gödel behaupten)?
Amüsante und tragische Charaktere
Holt befasst sich mit Sir Francis Galton, der für die Statistik Wertvolles und für die Eugenik Verheerendes leistete; mit der Unendlichkeit im Großen und Kleinen und David Foster Wallace' Beiträgen dazu; mit dem Vier-Farben-Problem und dem Fermatschen Satz; den möglichen Enden des Universums und der Unzahl der String-Theorien; und genauso lebhaft mit "Gott, Heiligkeit, Wahrheit und Bullshit".
Geboten wird dichte populäre Wissenschaftsgeschichte, bevölkert von amüsanten und tragischen Charakteren. Man gerät in fesselnde Logik-Zwickmühlen, lässt sich in die Paradoxien verstricken, die auch die Superhirne marterten, und grübelt über der Frage "Wären Menschen weniger absurd, wenn sie größer wären?" und fühlt sich in puncto Wissen und Unwissen über die letzten Dinge gut informiert.
Frauen treten erschütternd selten auf. Holt ehrt mit ein paar Zeilen die Mathematikerin Emmy Noether; für Ada Byron, die ambitionierte Tochter von Lord Byron, hat er bestenfalls ein nachsichtiges Lächeln übrig.
Apropos Lächeln! Jim Holt glaubt, dass "im Jahr 1.000.000" Humor der "universellste Aspekt der Kultur" sein wird. Und die Physik, wenn sie vielleicht doch die alles erklärende Weltformel findet? Holt mag gelächelt haben, als er festhielt: "Die Theoretische Physik wird am Ende sein, aber die übrigen Wissenschaften werden es kaum bemerken."
Ein tolles Buch: klug, fesselnd und cool im Vortrag.