"Ich habe Sehnsucht nach Halberstadt"
Jizchak Auerbach war der letzte Jude, für den 1938 in der prächtigen Barocksynagoge in Halberstadt Brit Mila, die Beschneidung, gefeiert wurde. Kurz vor seinem Tod hat er sich mit Reporter Sebastian Mantei in seiner Geburtsstadt auf Spurensuche begeben.
Weißer Rauschebart, wacher Blick und die Kippa unter einer Mütze verborgen, so spazierte der kleine Mann einer großen Rabbinerfamilie im letzten Sommer durch seine Geburtsstadt - es sollte sein letzter Spaziergang durch Halberstadt werden.
Mit besonderer Wehmut blickte er damals in den Toreingang der Bakenstraße 56. Darüber steht zwischen zwei goldenen Kronen der Spruch "Bet Tefila Israeli"- "Israelitisches Haus des Gebetes" - und weist den Weg zum zerstörten Gotteshaus im Hinterhof.
Bis zu ihrer Zerstörung 1938 stand hier eine der prächtigsten Barocksynagogen Mitteldeutschlands. Eine Fliese vom Boden der Synagoge erinnerte Auerbach zeitlebens in Jerusalem an die große jüdische Zeit in Halberstadt. Diese Stadt hat in der Erinnerung der Familie auch in Israel weitergelebt, wie Jizchak Auerbach mit Stolz erzählt.
"Ich liebe die Stadt"
"Wenn Sie in Jerusalem durchgehen und wissen, dass die Propheten, unsere Vorfahren dort gelebt haben, kommt das mir sehr ähnlich vor und doch ganz anders. Ich habe Sehnsucht nach Halberstadt, ich liebe die Stadt Halberstadt, ich sehe sie als meine ehemalige Heimatstadt an, doch heute, nach dem, was war, ist das doch ganz anders."
Die Zeiten waren für die Juden schwer, als Jizchak Auerbach und seine Zwillingsschwester im August 1938 geboren werden. Das bekommt die Mutter selbst bei der Geburt der Zwillinge zu spüren.
"Der Hitler macht sie ja kaputt"
"Als meine Mutter uns geboren hat, das war am Schabbat, da hat man die Hebamme gerufen. Und meine Mutter hat meine Zwillingsschwester geboren. Und wie sie fertig war, nahm sie [die Hebamme] ihren Mantel und will weggehen. Da sagt der Arzt: Gehen Sie weg? Hier ist noch ein Kind da. Sagt sie zu meiner Mutter: Was bringen Sie die armen Würmer auf die Welt, der Hitler macht sie ja kaputt. Aber sie ist doch geblieben und ich – Tatsache - bin hier."
Jizchak Auerbach wächst in eine altehrwürdige Rabbinerfamilie hinein, die bereits seit mehreren Generationen die Gemeinde leitet.
"In Halberstadt waren es vier Generationen. Es waren in Deutschland paar Familien, Rabbiner-Familien. Und das nannte man das ABC - Auerbach, Bamberger und Carlebach. Die haben sich dann untereinander auch geheiratet, und warum? Alles immer durch die Gemeinden, weil damals die Reformierten hier waren. Der Mendelssohn und die haben Angst gehabt, dass jemand von den Reformierten in unsere Familie geht."
Im Kinderwagen wird Jizchak Auerbach nicht mehr durch Halberstadt geschoben. Zu gefährlich ist es auf den Straßen für Juden. Doch in die Synagoge wird er gebracht. An einem Schabbat wird er dort beschnitten und ist somit der letzte Jude, für den in der prächtigen Barocksynagoge zu Halberstadt die Brit Mila gefeiert wird.
Entkommen aus dem KZ Buchenwald
Wenige Monate später endet am 9. November 1938 die über 200-jährige Geschichte der Synagoge. Jizchak Auerbachs Vater wird wie viele andere jüdische Männer noch in der Pogromnacht abgeholt und kommt vorerst in das Konzentrationslager Buchenwald. Doch er hat Glück, kommt frei und organisiert die Flucht seiner Familie nach Palästina. Das schaffen nicht alle Halberstädter Juden. Ihre Namen stehen heute auf den Steinen der Erinnerung vor dem Dom.
Auch wenn die Auerbachs 1939 die Heimat verließen, lebte Halberstadt in der Familie weiter. Für Jizchak Auerbach war die Stadt stets präsent, die er als Säugling verlassen musste.
"Alles haben wir erzählt bekommen. Wie es war, die Synagoge, die Melodien. Aber wir haben alles so weitergeführt in Israel, wie meine Eltern das in Halberstadt vor sich gesehen haben. Obwohl meine Mutter aus Hamburg war und auch ihre Eltern. Aber irgendwie sind wir wie Halberstädter aufgewachsen."
Das gelang auch, weil die Familie wichtige beschlagnahmte Gegenstände der Rabbinerfamilie von den Nazis zurückerhalten hatte. Der Vater bat aus beruflichen Gründen 1940 um die Übersendung der beschlagnahmten Sachen.
"Eine große Ehre für uns und eine große Freude"
"Und er als Rabbiner brauche es. Und alles ist in Israel angekommen, in einem großen Kasten mit Hakenkreuzen draufgeklebt - aber alles bis auf das letzte Haar."
Von den Steinen der Erinnerung geht Jitzchak Auerbach ein letztes Mal langsam über den Willy Cohn Platz, der nach dem jüdischen Kaufhausbesitzer benannt wurde, zur ehemaligen jüdischen Schule und an der zerfallenen Gebetsstube der polnischen Juden vorbei - zurück zu den Resten der Barocksynagoge, wo die Auerbachs über Generationen hinweg Gottesdienste feierten. Gerade deshalb freut sich Jizchak Auerbach, dass die letzten Zeugnisse dieser Zeit im Familienbesitz geblieben sind und mit ihren Geschichten weitergegeben werden.
"Nach unserem Ableben, hat mein Vater geschrieben, das soll nur einer erben, der seinen Namen trägt. Der letzte, der bis jetzt seinen Namen trägt, ist mein kleiner Enkelsohn, und er trägt auch den Namen Hirsch Benjamin Auerbach: eine große Ehre für uns und besonders eine große Freude."