J. M. G. Le Clézio: „Bretonisches Lied“

Abgesang auf ein altes Frankreich

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Buchcover Bretonisches Lied von J.M.G. Le Clézio.
© Kiepenheute & Witsch

J. M. G. Le Clézio

Übersetzt von Uli Witmann

Bretonisches LiedKiepenheuer & Witsch, Köln 2022

186 Seiten

22,00 Euro

Von Dirk Fuhrig |
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Der französische Literaturnobelpreisträger kehrt in die Region seiner Kindheit zurück und sehnt sich nach einer vergangenen Zeit. Das ist literarischer Hochgenuss, rückt ihn aber auch in die Nähe eines Autorenkollegen vom entgegengesetzten politischen Lager.
„Bretonisches Lied“ ist eine literarische Rückkehr: Jean-Marie Gustave Le Clézios, der sich selbst immer J. M. G. Le Clézio abkürzt, hat am nordwestlichen* Ende von Frankreich einen Teil seiner Kindheit verbracht, nämlich zwischen 1948 und 1954.
Die Erinnerungen sind eine Hymne auf die Schönheit der Region, in die seine Eltern mit ihm und dem etwas älteren Bruder jeden Sommer mit dem Auto aus Nizza anreisten. Der kleine Ort Sainte-Marine erscheint in diesem sprachlich hochsensibel ausgearbeiteten Text als ein Hort der Ursprünglichkeit. Ein Symbol für das „alte“ Frankreich – und das, obwohl damals in der Bretagne manche Leute auf dem Land überhaupt kein Französisch sprachen. Die gälische Tradition – aus der historischen Verbindung zu Irland  – war noch nicht abgeschliffen.

Klage über Elend der Moderne

Le Clézio preist den „einfachen, echten Heroismus der Seeleute und Fischer“, die seinerzeit mit ihren kleinen Booten aufs Meer hinausfuhren.
Er schwärmt vom rebellischen Geist der Bretonen und von chemisch noch unbehandelten Weizenfeldern, die bis an die Dünen heranwuchsen; von kettenklirrenden Seilfähren, mit denen man gemütlich über den einmündenden Fluss Odet schipperte, bevor eine gigantische Brücke dessen Überwindung autogerecht gestaltete.
Überhaupt gab es damals zwar schon einige „Pariser“  – wie die Provinzbewohner überall in Frankreich alle auswärtigen Feriengäste abschätzig bezeichnen  –, aber nicht die Mengen von Touristen aus aller Welt, die Dörfern wie Sainte-Marine seither alle Beschaulichkeit ausgetrieben haben.

Nostalgie womöglich ein erstrebenswertes Gefühl

„Nostalgie ist kein erstrebenswertes Gefühl“, schreibt Le Clézio am Ende dieses Textes  – entschuldigend, als merke er auf einmal, wie wehmütig sich diese Zeilen anhören. Aber genau das ist dieses „Bretonische Lied“: ein klagender Abgesang auf eine Landschaft und eine Epoche, die damals noch wenig von den Zurichtungen der Nachkriegs-Moderne betroffen war.
Einem 82 Jahre alten Schriftsteller mag man diesen idealisierenden Blick auf die Kindheit gerne zugestehen, zumal sich J. M. G. Le Clézios gesamtes Werk unter dem Stichwort Zivilisationskritik lesen lässt: Ob auf Mauritius, in afrikanischen Ländern oder in Mittelamerika  – Le Clézios Romane beschreiben fast immer die fatalen Folgen von Handel, Industrialisierung, Kolonialisierung.
Er ist dabei ein vehementer Kritiker des „eurozentristischen“ Blicks auf die Welt, und auch einer der ersten, der sich  – schon seit den 60er-Jahren  – wortmächtig für die Belange der Umwelt im globalen Kontext eingesetzt hat. Allerdings nie als öffentlich auftretender politischer Intellektueller, sondern in seiner mitunter etwas hermetischen Literatur.

Sehnsucht als Schulterschluss mit Houellebecq

In Le Clézios „Bretonischem Lied“ klingt etwas an, das auch in Michel Houellebecqs jüngstem Roman „Vernichten“ den Grundton vorgab: die Sehnsucht nach einem Frankreich der Traditionen, dem Leben in Einklang mit der Natur  – im Kontrast zu Zersiedlung, Individualisierung und Globalisierung.
Der Gegensatz zwischen sich abgehängt Fühlenden auf dem Land und den urbanen Eliten ist in Frankreich sehr präsent, wie auch die Wahlen in diesem Jahr gezeigt haben. Und das nicht nur auf der rechten Seite des gesellschaftlichen Spektrums (dem Houellebecq zuneigt), sondern auch im äußerst linken, zu dem Le Clézio zu rechnen ist.
Eine der wenigen direkt politischen Bemerkungen in seinem Text richtet er gegen die „intolerante Seite der militanten Salongrünen“, die sich über die wahren Interessen der Landbevölkerung hinwegsetzten.

Stilistisch fein austariert und emotional

Ebenso persönlich gehalten wie das „Bretonische Lied“ ist die zweite Erzählung in dem Band: „Das Kind und der Krieg“. Während Le Clézios Vater als Arzt in Afrika tätig war, verbrachte Jean-Marie Gustave seine ersten Lebensjahre in einem Bergdorf nördlich von Nizza, in das die Familie aus Furcht vor den deutschen Besatzern geflohen war. Es war eine Zeit des quälenden Hungers und der Angst vor Verhaftung und Bomben.
Die beiden Erzählungen in „Bretonisches Lied“ sind beindruckend in ihrer autobiografischen Offenheit und hochliterarisch in Le Clézios fein austariertem, sehr eindrücklichen und überraschend emotionalen Stil. Packende Lebenserinnerungen eines wortmächtigen Nobelpreisträgers.
* Wir haben eine geografische Angabe korrigiert.
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