Erfüllende Arbeit

Selbstverwirklichung im Job ist ein Privileg

Eine Auslieferungsfahrerin mit einem Paket an einem Lieferfahrzeug.
Für viele sind die Hindernisse zu hoch, dem Bedürfnis nach einer „erfüllenden“ Arbeit auch Taten folgen zu lassen, sagt Houssam Hamade. (Symbolbild) © Getty Images / Luis Alvarez
Ein Standpunkt von Houssam Hamade · 22.07.2022
In akademisierten und kreativen Berufen gilt der Anspruch der Selbstverwirklichung. Menschen in "einfachen" Jobs hätten andere Sorgen, heißt es oft. Dabei verhindern mangelnde Ressourcen, dass sie ihre Träume leben, meint Journalist Houssam Hamade.
Unterhalten Sie sich doch heute mal mit Ihrem Nachbarn über die Frage: Wie wichtig ist Selbstverwirklichung bei der Arbeit? Sehr wahrscheinlich werden Sie während einer längeren Unterhaltung auf das Argument stoßen, dass „einfache Leute“ nicht an Selbstverwirklichung interessiert seien. Heißt: Leute, die beruflich Pizzas backen, Büros putzen, an der Supermarktkasse sitzen oder Pakete ausliefern, haben andere Sorgen, als Erfüllung bei der Arbeit zu suchen.
An dieser Behauptung ist einiges richtig. Selbstverständlich gibt es Leute, die zufrieden damit sind, schlicht „ihren Job zu machen“, ohne ständig über einen größeren Sinn nachzudenken. Das ist legitim. Diese Menschen trifft man überall und auf allen Ebenen der Gesellschaft. Der Unterschied ist der: In akademisierten und kreativen Berufen wird meist erwartet, dass die jeweilige Arbeit die Erfüllung der eigenen Träume bedeutet.

Begeisterung simulieren im Bewerbungsgespräch

Berühmt-berüchtigt ist die Frage bei Bewerbungsgesprächen: „Warum wollen Sie denn gerade bei uns arbeiten?“ Die ehrliche Antwort wäre in der Regel: „Weil ich Geld brauche und ihr eine Stelle ausgeschrieben habt, die halbwegs passt.“ Wer so ehrlich ist und das so sagt, wird den Job wahrscheinlich nicht bekommen. Erwartet wird nämlich, dass die sich Bewerbenden überzeugend vermitteln, dass sie ungeheuer begeistert von Job und Firma sind.
So wie es in der akademischen Welt Menschen gibt, die einfach nur ihren Job machen wollen, gibt es umgekehrt natürlich auch unter Menschen mit sogenannten einfachen Tätigkeiten das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung. Denn dass jemand „andere Sorgen hat“ bedeutet nicht, dass jemand lebenslang ein mechanisch agierendes Rädchen im Getriebe sein möchte. Wer will schon, dass das eigene Lebenswerk darin besteht, dem Chef den neuesten Porsche zu finanzieren?

„Auf! Auf! In die Freiheit!“

Ich kenne diese Erfahrung: Bis ich 33 Jahre alt war, habe ich Menschen mit Behinderungen betreut. An sich ist das kein sogenannter „Bullshit-Job“. Menschen betreuen ist sinnvoll. Für mich fühlte sich der Job aber falsch an. Ein Schlüsselerlebnis war, als ich nach endlich, endlich erlangtem Feierabend aus meiner Arbeitsstelle stürzte und mir eine Frau, die ich betreute, zurief: „Auf! Auf! In die Freiheit!“
Man könnte also durchaus sagen, ich fühlte mich nicht „verwirklicht“. Nichts schwang in mir, wenn ich auf der Arbeit war. Darum habe ich nach viel Leidensdruck spät noch das Abitur nachgeholt und danach studiert. Das war zeitweise mühsam. Auch war es damals schon absehbar, dass sich das Ganze finanziell nicht lohnen würde. Heute bin ich trotzdem froh, dass ich diesen Weg gegangen bin, denn ich bin einer dieser Menschen, für die der Job nicht einfach ein Job ist. Und, noch einmal: Solche Leute wie mich gibt es überall, auch unter Kassierinnen.
Aber für viele sind die Hindernisse zu hoch, diesem Bedürfnis nach einer „erfüllenden“ Arbeit auch Taten folgen zu lassen. Wer Kinder hat, eine Wohnung abzahlt, sich um die alte Mutter kümmern muss, oder chronisch krank ist, die oder der hat tatsächlich „andere Sorgen“.

Selbstvertrauen notwendig

Hinzu kommt: Selbstverwirklichung erfordert den Glauben daran, etwas Besseres zu verdienen, als das, was man derzeit hat und dass es auch möglich ist, das zu erreichen. Auch in dieser Hinsicht ist Selbstverwirklichung ein Privileg: Denn wer kaum positive Rollenvorbilder hat, wen die Eltern nicht genügend fördern können und wer in der Schule nicht die richtige Unterstützung erfährt, hat es schwer, dieses Selbstvertrauen zu entwickeln.
Es sind nicht die einzelnen Menschen, die sich nicht genügend anstrengen, ihre Träume zu verwirklichen, sondern es sind die mangelnde gesellschaftliche Wertschätzung und vor allem fehlende Ressourcen, die die sogenannten „einfachen“ Menschen und deren Träume klein halten.

Houssam Hamade ist freier Journalist und Autor. Im Herbst 2018 erschien sein Buch: "Sich prügeln: 18 Geschichten aus dem Leben". Hamade lebt in Berlin.

Houssam Hamade steht mit Mantel und Baskenmütze vor einer Wand.
© Houssam Hamade

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