Jochen Schimmang: "Laborschläfer"

Das kollektive Gedächtnis der BRD im Halbschlaf

Auf dem Cover ist eine gemalte Zimmerecke zu sehen, links ist ein Fenster mit Holzrahmen, aus dem ein Lichtstrahl dringt und einen Schatten wirft. Am Boden sind Fliesen mit Zeichnungen von Figuren darauf zu sehen.
© Edition Nautilus

Jochen Schimmang

LaborschläfeEdition Nautilus, Hamburg 2022

328 Seiten

24,00 Euro

Von Helmut Böttiger · 27.05.2022
Wie vermischen sich persönliches Erleben und historische Realität? Virtuos schöpft der Autor Jochen Schimmang aus den Aufwachprotokollen seiner Hauptfigur eine Zeit- und Gefühlsgeschichte der Bundesrepublik.
Der Protagonist dieses Romans heißt Rainer Roloff und ist wie der Autor 1948 geboren, also fast genauso alt wie die Bundesrepublik. Deshalb ist er der ideale Proband für die Langzeitstudie eines Schlaflabors, das Belege für ein „kollektives Gedächtnis“ finden möchte.
Dabei stehen vor allem die etwa 20 Minuten im Prozess des Aufwachens im Mittelpunkt: Was in diesem „Übergangsraum“, in diesem „Denkschlaf“ geschieht, wird genau protokolliert. Es handelt sich also nicht um eine psychoanalytische Sitzung, sondern eher um ein soziologisches Experiment: In der Phase des Aufwachens werden biografische Bruchstücke erinnert, scheinbar zusammenhanglose Details aus dem bisherigen Leben, sodass sich langsam ein Vexierbild bundesdeutscher Gefühlslandschaften entwickelt.

Skandal der jüngeren Geschichte

Merkwürdigerweise kreist die erste dieser genau, aber lustvoll und mit überraschenden Volten protokollierten Halbschlaferinnerungen um die „Barschel-Affäre“ des Jahres 1987, einem der größten Skandale der jüngeren deutschen Zeitgeschichte.
Da wurde der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Uwe Barschel tot in einem Genfer Hotelzimmer aufgefunden, und die Hintergründe dieses Geschehens, in dem offenkundig Waffenhändler und diverse Geheimdienste mitmischten, sind bis heute nicht aufgeklärt.
Dazu gehört auch die Rolle eines gewissen Rainer Roloff, der Uwe Barschel als Entlastungszeuge dienen sollte und der genauso heißt wie der Protagonist des vorliegenden Romans.

Verweise auf Reales und Fiktives

Das ist ein Spiel mit Andeutungen und Verweisungssystemen, das der Autor Jochen Schimmang in der Folge immer genussvoller praktiziert. Er schmuggelt die Schauspielerin Nina Hoss genauso heimlich ins Geschehen wie zum Beispiel den Schriftsteller Ror Wolf mit dessen erfundenen Figuren, und langsam entsteht ein Gefühl für die Atmosphäre der jüngeren Zeitgeschichte, das den landläufigen Mitteln der Reportage oder des realistischen Erzählens immer wieder ein Schnippchen schlägt.
Schimmang ist beileibe kein typischer Vertreter der 68er-Generation. Er schildert zeittypische Erfahrungen aus liebevoll-ironischer Distanz, mit einem Wissen um Vergeblichkeiten.

Virtuose Erinnerungssprünge

Zu den verblüffendsten Eigenschaften des Helden gehört es, dass sein Leben, wie er sagt, im Grunde erst um 1980 angefangen habe, im Alter von ungefähr 30. Ausgelöst wird diese Erkenntnis durch eine Taxifahrt zum Schlaflabor, als der Fahrer plötzlich die Platte „Fear of Music“ von den Talking Heads laufen lässt.
Diese Szene überführt auf komische Weise die Erinnerungsvirtuositäten eines Marcel Proust in die Gegenwart. Zu anderen unerwarteten Bewusstseinssprüngen gehört etwa der „Toast Mozart“, der Ende der 70er-Jahre in den Speisewagen der Intercity-Züge gereicht wurde – eine ungemein sinnliche Vermittlung von historischem Zeitgefühl, auch wenn da manchmal ein seltsamer Geschmack auf der Zunge zurückbleibt.
Ein melancholischer, gelassener Roman mit unvorhersehbaren humoristischen Sprengsätzen.    
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