Jörg Scheller: Identität im Zwielicht. Perspektiven für eine offene Gesellschaft
Claudius Verlag, München 2021
208 Seiten, 18 Euro
Fantasie an die Macht!
06:16 Minuten
Der Kulturwissenschaftler Jörg Scheller knöpft sich in einem Essay die sogenannte Identitätspolitik vor. Er plädiert für einen spielerischen, fantasievollen Umgang mit Identitäten.
Identitätspolitik ist ein Reizwort, ein Schlagwort. Eine verbale Waffe zur Selbstverteidigung für die einen, das Ende von Gleichheit und Demokratie für die anderen. Ein Aufreger, in jedem Fall.
Jörg Scheller, bekannt und öffentlichkeitswirksam aktiv als Kulturwissenschaftler, Heavy-Metal-Fan, Musiker, Fitnesstrainer, Bodybuilder und Publizist befasst sich nun in einem ausführlichen Essay mit Identitätspolitiken: mit ihrer sozialpolitischen Funktion, ihren verschiedenen Definitionen, dem Stand der Debatten und der Art und Weise, wie sie – vor allem in den Medien – wirksam werden.
Er spricht von einem "Feld strategischer Missverständnisse".
Verschwunden in der Generalisierung
Das kleine, aber gehaltvolle Buch beginnt mit einem Wutausbruch über konfektionierte Identitätskategorien und Kollektivsingulare ("alter weißer Mann", "Feministin", "PoC") und endet mit einem Aufruf zum Ausgang aus den (selbst)zugewiesenen Schubladen.
Scheller ist überzeugt: Menschen in Identitätskategorien einzusortieren versperre den Blick auf soziale und psychische Realitäten.
Wer zum Beispiel ist für wen eine Person of Color?
Aus deutscher Sicht gehören Menschen türkischer oder süditalienischer Herkunft schon dazu, während sie in den USA, von wo ja der größte Teil der Kategorien übernommen wurde, als weiß ("caucasian") gelten würden. Ist ein schwach pigmentierter Leiharbeiter aus Osteuropa tatsächlich zu den mächtigen "alten weißen Männern" zu zählen? Wie viele feministische Anliegen und Strömungen gibt es?
Identitäten, so notwendig sie zur Orientierung in der Welt sind, lassen Individuen schnell und umstandslos in der Generalisierung verschwinden.
Identitätspolitik als Machtfaktor
Identitätszuschreibungen fangen, wie so vieles in unserem Kulturkreis, mit Adam und Eva an: Der Mensch soll nach dem Willen Gottes allem, was auf Erden lebt, Namen geben: "Und wie der Mensch jedes lebendige Wesen benannte, so sollte es heißen." (Genesis 2,19).
Benennungen verschaffen, so Scheller, den Benennenden eine – zumindest symbolische – Macht, als ersten Schritt zur Errichtung einer symbolischen Ordnung. In diesem Kontext verortet er auch die Praxis der Selbst-Identifizierung: als Formulierung eines Anspruchs auf Macht oder die Teilhabe an ihr.
Die zugewiesene Identität wird benutzt, um Anerkennung zu erreichen. Schellers dialektisches Postulat ist: Identitätspolitik als Umweg zum Universalismus. Wenn über Identitätspolitik Gleichheit erreicht ist, wird man sich irgendwann wieder "de-identifizieren" können.
Mir fällt dazu ein, welch entscheidende Rolle vor fünfzig Jahren die Zugehörigkeit zur Konfession gespielt hat: Katholische und Evangelische waren segregiert und bekämpften einander teilweise erbittert. "Mischehen" waren ein Problem.
Heute würde sich kaum jemand noch konfessionell identifizieren. Scheller nennt dieses Beispiel nicht, aber es spricht sehr für seine Argumentation.
Imagination von Identitäten
Den Weg in eine offene Gesellschaft sieht Scheller im Spiel mit und in der Wandelbarkeit von Identitäten. Dazu bringt er, der Kulturwissenschaftler, die Kunst ins Spiel: In der Offenheit des Ästhetischen könne man sich selbst und andere neu imaginieren.
So endet dieser Essay, nachdem er in die Hitzigkeit der Debatte viel "common sense" eingeführt hat, mit einer aktuellen Variante des Rufs "Fantasie an die Macht". In einer von Schellers griffigen Formulierungen: "Man ist zwar so oder so, meint sich aber, zumindest vorübergehend, anders."
Warum wir eine Kultur der Schwäche brauchen: Einige der in dieser Rezension beschriebenen Gedanken skizzierte der Kulturwissenschaftler Jörg Scheller bereits Anfang dieses Jahres in einem Radioessay für die DLF-Sendereihe "Essay und Diskurs": "Dingen einen anderen Namen zu geben, verändert zunächst einmal nicht die Dinge selbst, sondern, nun ja, eben nur deren Namen."