Jörn van Hall: "Du stirbst im Fliegen"

    Ein Fremder im Dorf

    05:26 Minuten
    Buchcover: "Du stirbst im Fliegen" von Jörn van Hall
    © Quintus-Verlag

    Jörn van Hall

    Du stirbst im FliegenQuintus, Berlin 2022

    119 Seiten

    20,00 Euro

    Von Marko Martin |
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    Wie reagiert eine halb demente ehemalige Opernsängerin auf einen aus dem Iran Geflüchteten, der überdies der Freund ihres schwulen Sohnes ist? Und: „Was sagen die Nachbarn?“ Jörn von Halls Erzählung berichtet von alldem ohne jegliche Klischees.
    Ein norddeutsches Dorf unweit der Ostsee, in das es irgendwann einen aus dem Iran Geflüchteten verschlägt, der homosexuell ist. Was womöglich ein wenig wie die Programmvorschau zu einem inhaltlich und ästhetisch voraussehbaren Fernsehfilm mit sozialkritischer Anmutung klingt, wird in Jörn van Halls Erzählung „Du stirbst im Fliegen“ zu einem packenden literarischen Kammerstück, das alle gängigen Erwartungen unterläuft.
    Die kleine Dorfgemeinschaft – das heißt jene vor allem Älteren, die noch miteinander sprechen anstatt als Zugereiste nur dann sichtbar zu werden, wenn beim Nachbarn ein bestelltes Amazon-Paket abzuholen ist – wird nämlich den Fremden weder ausgrenzen noch Dank seiner Präsenz zu etwas mehr Herzlichkeit finden.

    Mourads Eltern mit Mullah-Regime verbandelt

    Das literarische Debüt des 1970 geborenen Autors, über den relativ wenig bekannt ist, verweigert sich dabei in jeder Zeile dem Kitsch und nahe liegenden Stereotypen – und beweist damit auf denkbar unangestrengte Weise, dass es selbstverständlich auch im Stilistischen so etwas wie Würde gibt.
    Mourad aus dem Iran spricht bereits deutsch, da seine Eltern eine Weile in Wien gelebt hatten; um deren Verbandelung mit dem Mullah-Regime sichtbar zu machen, genügen einige wenige Andeutungen. Umso konkreter – doch auch das nie episch ausgewalzt – Mourads Erinnerung an den autoritären Vater, ein Spiegelbild jener Gesellschaft, in der „ertappte“ Homosexuelle öffentlich hingerichtet werden, oft an Kränen aufgehängt.

    Blitzlichter aus der deutschen Vergangenheit

    Der Beamte, der in einer namenlos bleibenden deutschen Stadt Mourads „Fall“ nun bearbeitet, versteckt indessen seine eigene Homophobie hinter bürokratischer Hyperkorrektheit, während in den Wohnkabinen der Flüchtlingsunterkunft drohende Spottworte die Runde machen: „Wir mussten vor dem Krieg fliehen, vor Hunger und Not. Du fliehst das göttliche Recht.“
    Und so findet Mourad mithilfe seines deutschen Freundes Ole Zuflucht in jenem Dorf, in dem Oles Mutter Helene ein kleines Häuschen besitzt. Die 80-Jährige leidet an zunehmender Demenz, die sie freilich als ehemalige Opernsängerin noch leidlich verbergen kann – sie nennt Mourad, dessen Namen sie immer wieder vergisst, dann einfach „Osmin“, denn zumindest weiß sie noch um jene Gestalt aus Mozarts „Entführung aus dem Serail“.
    Dass ihr Ehemann Hans einst Selbstmord begangen hatte und bei seiner Geburt Anfang der 40er-Jahre von seinen Eltern ausgerechnet nach dem NS-Massenmörder Hans Frank benannt worden war, gilt es jedoch besser nicht zu erinnern. Dafür wissen es die Nachbarn, der alte Frithjoff ebenso wie die trunksüchtige Briefträgerin. Blitzlichter aus deutscher Vergangenheit und Gegenwart, vom Autor ohne jegliche Effekthascherei eingesetzt.
    Da für die Leute hier ja noch nicht einmal Oles und Mourads Homosexualität ein „großes Thema“ ist. Helene spricht in helleren Momenten voller Amüsement über das übliche Geschehen hinter den Opernbühnen, während die übrigen Dorfbewohner den Hinzugekommenen auf ihre Weise belobigend willkommen heißen: „Der Mourad ist nicht mit dem Klammerbeutel gepudert.“

    Lektüre, die noch lange nachhallen wird

    Die Sentenzen, mit denen er von Zeit zu Zeit antwortet, unprätentiös und über den Gartenzaun hinweg, stammen dagegen vom Dichter Hafis, haben ein anderes Niveau – oder assoziieren derart Schlimmes, dass er sie lieber für sich behält: Das der Erzählung ihren Titel gebende „Du stirbst im Fliegen“ spielt auf das Geschehen in seiner unwirtlichen Heimat an, in der Schwule mitunter auch ohne Gerichtsurteil umgebracht werden, hinabgestoßen von Gebäudedächern.
    Beinahe läppisch dagegen, dass irgendwann Helenes Smaragdring verschwindet und sich Mourad unter Verdacht gesetzt fühlt. Das Ganze löst sich alsbald auf – zwar weniger in hehrem Wohlgefallen, sondern eher in der nöligen Alltagsroutine dieser dörflichen Welt – doch signalisiert dies mitnichten ein Happy End. In der Stadt wird entschieden, dass Mourad abgeschoben werden soll, worauf dieser dem auf eigene Weise zuvorkommt. Auf nur knapp über 100 Seiten entfaltet sich diese Geschichte und bleibt dennoch – oder gerade deswegen – eine Lektüre, die noch lange nachhallen wird.

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