Johann Kresnik: Theater der 68-er hat viel bewirkt

Moderation: Frank Meyer |
Der Choreograf und Tänzer Johann Kresnik vermisst in der heutigen Theater- und Tanztheaterszene politisch-revolutionäre Stücke, wie sie die 68er-Bewegung hervorgebracht hat. Da gab es eine große Entwicklung, die leider Gottes nicht mehr fortgesetzt wurde, sagte Kresnik.
Frank Meyer: Am Samstag wird an der Oper Erfurth Giuseppe Verdis Oper "Ein Maskenball" Premiere haben. Inszeniert von dem Choreografen Johann Kresnik. Er hat die Handlung der Oper zum Teil auf die Trümmer des New Yorker World Trade Centers verlegt. Die Arbeiten von Johann Kresnik sind bekannt für ihre drastige politische Symbolik. Sie sind Tanz gewordene Kraftakte und Gewalttaten, die die Brutalitäten und Obszönitäten der gesellschaftlichen Wirklichkeit spiegeln. So hat das der Theaterwissenschaftler Klaus Völker beschrieben. Seine erste politische Choreografie hat Johann Kresnik im Jahr 1968 gezeigt. Das Stück "Paradies" über Rudi Dutschke und die Studentenrevolte. Johann Kresnik ist jetzt für uns am Telefon. Herr Kresnik, Rudi Dutschke wurde am 11. April 1968, also vor fast genau 40 Jahren, von dem Hilfsarbeiter Josef Bachmann niedergeschossen. Was ist Ihnen damals durch den Kopf, vielleicht auch durch den Körper gegangen, als Sie davon erfahren haben?

Johann Kresnik: Nun ja, es war ja damals so, dass Ballett im Prinzip oder choreografisches Theater nichts mit Politik haben durfte. Aber das war ja eine große Bewegung auch für unser Theater und vor allem für mich speziell, der ja damals in der marxistischen Bewegung war, die Bewegung der APO. Diese ganze 68er-Bewegung hat uns ja nicht nur von den Eltern, den Nazi-Eltern befreit, sondern auch der Widerstand gegen Machtpositionen. Keiner konnte ungefragt überhaupt zu einem Intendanten gehen. Und dann so ein Stück wie "Paradies" mit Fragezeichen zu stellen, wo es auf der Straße gegen Vietnam ging. Es war aber vorher schon gegen den Einmarsch der Russen in Ungarn, in der Tschechoslowakei. Und das war eine große Bewegung. Und wir damals im Theater das erste Mal die Türen der Intendanten öffnen konnten und reingehen und sagen, wir möchten auch mitsprechen, was ein bestimmter Plan ist. Und da wir in Köln sehr viel Japaner und Chinesen aus New York hatten, hatte ich die Nase voll, immer nur nachzutanzen, was die uns vorkauen. Und so wurde natürlich das Attentat auf Rudi Dutschke für mich eine tolle Möglichkeit, das erste Mal in Köln so was zu zeigen. Das war knapp vor den Notstandsgesetzen, Marsch nach Bonn. Also das Attentat zu zeigen, wo die APO-Bewegung in den Zuschauerraum mit Fahnen saß, mit den langen Haaren und so, das war absolut ungewohnt. Und da konnte ich das erste Mal Gott sei Dank politisch durchgreifen.

Meyer: War das ein Aufbruch des ganzen Theaters, oder war das eine kleine Gruppe Gleichaltriger um Sie herum?

Kresnik: Leider Gottes gab es in der gesamten Kompanie keinen, der politisch betätigt war. Ich war damals schon in der marxistischen Bewegung, bin lange Zeit vorher schon KPÖ-Mitglied in Österreich gewesen. Leider nein. Aber ich war der Erste, der dann die Türen bei den Sekretärinnen aufriss und sagte, ich möchte mit dem Intendanten sprechen, was haben wir für Pläne nächstes Jahr. So ging es doch mit den jungen Leuten, vor allem im Schauspiel, überall los, und es war ein großer Grund auch von uns, im Theater zuzugreifen.

Meyer: Wie waren denn die Reaktionen damals? Man liest immer wieder, "Paradies" war die erste politische Choreografie der Nachkriegszeit nach über 40 Jahren Pause. Wie hat das Publikum auf so etwas reagiert?

Kresnik: Es war natürlich die Hälfte davon Kollegen von mir, die politisch orientiert waren und auch APO-Kollegen drinnen saß, ein Riesenerfolg. Wir durften es nur einmal spielen, dann wurde es sofort abgesagt. Weil das war man nicht gewohnt, dass dort Leute mit Fahnen in den Zuschauerrängen sitzen und dann Ho Chi Minh rufen und, und, und, also politische Äußerungen geben, bis lange nach der Vorstellung auch noch diskutiert im Zuschauerraum und im Foyer wurde.

Meyer: Eine Vorstellung ist natürlich wenig. Wäre es damals nicht im Zug der Zeit gewesen, mit so einer Produktion dann auch auf die Straße zu gehen, da, wo die Bewegung stattfindet?

Kresnik: Na ja, wir sind ja geschlossen dann gewesen, also meine Freunde, die in der marxistischen Bewegung waren, die ja dieses Theater, was bis dorthin gemacht wurde, im Prinzip ablehnten. Weil ich hatte so viel Themen im Kopf. Wenn man damals die "Bild"-Zeitung aufgeschlagen hatte und Herrn Franz Josef Strauß hörte und alles über den Nationalsozialismus und so, das gab wirklich viel Kraft. Leider war Ballett in dem Sinne immer sehr unpolitisch und unkritisch gegenüber, was sich bis heute fortgesetzt hat. Bei einigen jungen Choreografen sieht man Ansätze, aber leider Gottes zu wenig.

Meyer: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Choreografen und Regisseur Johann Kresnik über 1968 und das politische Theater. Wenn wir mal ein bisschen weiter schauen, ab 68 haben Sie dann zehn Jahre lang das Bremer Tanztheater geleitet. Die Tageszeitung "taz" hat über diese Zeit geschrieben, Ballett kann kämpfen, war die Parole, unter der Kresnik das Bremer Tanztheater geleitet hat. Die Stoffe und Formen waren ein Agitprop-Angriff auf das Ballett. Was war denn damals anders am Theater, als es heute ist?

Kresnik: Ich hatte das große Glück, nach Bremen zu Kurt Hübner zu kommen, wo es Zadek, Fassbender, Neuenfels, Mink und Bruno Ganz, Judith Kleber , Lampe und alles da war. Und ich stand vor diesen großen Männern und sagte mir, mein Gott, was kann ich denn da machen. Ich muss meinen politischen Weg, den Kurt Hübner erlaubt hat, weiter fortsetzen. Ob das jetzt Kriegsanleitung oder Pegasus, die Wahlpropaganda von Johnson und Nixon, den Nationalsozialismus, die Vergangenheit von uns weitersetzen, ich hatte das große Glück, dass leider heute weniger Intendanten gibt, dass sie so junge Leute jahrelang forschen und fördern.

Meyer: Sehen Sie denn auf Ihrem Arbeitsfeld im Theater bis heute Nachwirkungen dieser Zeit damals, dieses Aufbruchs von 1968?

Kresnik: Ja natürlich, klar, im gesamten Schauspielbereich hat sich vieles geändert. Dann gab es ja die Mitsprachegruppen, die aber nie richtig funktioniert haben. Heute ist es nicht mehr so schwierig, den Weg zu einem Intendanten zu finden und ihm auch zu sagen, wir möchten gerne im Programm mitsprechen. Das sind schon die Resultate, die guten Resultate, die aus 68 übrig geblieben sind. Leider sind die 68er, man siehe Joschka Fischer oder wie sie alle heißen, ganz woanders hingeschritten, als wie ich mit meiner Ideologie, die ich noch immer habe und sagen muss, heute noch, Theater muss wieder im heutigen Sinne politischer werden, wie es vielleicht einmal in den 60ern, 70ern, 80ern war.

Meyer: Wir erleben ja zurzeit auch eine große Abschwörbewegung, was 68 angeht, am radikalsten vielleicht bei dem Publizisten Götz Aly, der selbst ein höchst engagierter radikaler 68er war und der jetzt in seinem Buch "Unser Kampf" 1968 in eine Reihe mit 1933 stellt. Wie erleben Sie denn diese Auseinandersetzung heute mit 68?

Kresnik: Na ja, man hat ja bis vor einigen Jahren über uns geschmunzelt, ob es Leander Haußmann war oder wie alle diese jungen Regisseure hießen, geschmunzelt, wir wollen uns von diesen 68er-Vätern befreien. Nein. Man kann eines sagen, 68 hat sehr, sehr viel bewirkt, vor allem in der Landschaft des Theaters auch, wo man Mitspracherecht bekommen hat, wo es denn gar nicht mehr anders ging. Die Stücke haben sich verändert. Ich war auch einer der Ersten, der "Schwanensee AG" mit Yaak Karsunke gemacht hat, wo es hieß, Ballett kann kämpfen, muss kämpfen, und zwar kämpfen gegen die gesamte Situation des Theaters, dass Ballett nicht nur Operette, Musical und einmal im Jahr etwas machen darf. Und es hat sich durchgesetzt, bei Pina Bausch, bei mir, bei Reinhild Hoffmann, Susanne Linke, Gerhard Bohner. Das sind eigentlich alles Resultate aus den 68ern. Da gab es eine große Entwicklung, die leider Gottes nicht mehr fortgesetzt wurde.

Meyer: Aber interessant ist ja, dass auch bei anderen 68ern, wenn ich an den Schriftsteller Peter Schneider denke, der auch ein Buch über sich damals geschrieben hat, so ein Nachdenken eingesetzt hat, was hat mich damals so radikalisiert, welche Irrtümer habe ich damals vielleicht auch begangen. Wenn Sie darüber nachdenken, worauf kommen Sie?

Kresnik: Also ich komme im Prinzip auf keinen Irrtum, sondern mir hat es die Türen geöffnet und auch für meine Kompanie damals, um Stücke selbst auszuwählen, die kritisch sind. Weil früher wurde ja vorgeschrieben, was man machen musste, und das habe ich abgelehnt. Und viele Choreografen haben dann angefangen, auch mitzudenken und zu sagen, wir müssen nicht nur Operette und Musical machen, sondern wir wollen unsere eigene beständige, nicht das fünfte Rad am Wagen sein, sondern wir wollen eine eigene Gruppe sein. Und ich muss sagen, diese Ablehnung der 68er, die kann man nehmen, was man will. Wenn ich an Mahler, an Horst Mahler, denke, der jetzt zu den Rechten, zur NPD gegangen ist und dort seine Position hat, das sind natürlich so negative Situationen, die erscheinen, die wären aber in jeder politischen Situation auch gekommen.

Meyer: Am Samstag hat nun an der Oper Erfurth Ihre Inszenierung von Giuseppe Verdis "Maskenball" Premiere, und da berichten Zeitungen, Sie hätten die Handlung der Oper zwischen die Trümmer des New Yorker World Trade Centers verlegt. Wie stellen Sie denn in dieser Inszenierung den Zusammenhang her zwischen Verdis "Maskenball" und dem 11. September?

Kresnik: In Verdis "Maskenball" geht es ja um Macht und um Politik und um Liebe. Und das zu inszenieren, die ja Verdi nach Boston verlagert hat, hat mich interessiert, auf den Trümmern Amerikas diese Situation zeigen, dieses Stück zu zeigen, wo es um Liebe geht und Machtpositionen. Bei mir endet das Stück auch etwas brutaler als normal. Und ich habe dazu eine dritte Ebene gefunden. Nicht nur die Politiker und diejenigen, die an die Macht wollen, und die Mittelschicht, das ist eigentlich der Chor und so. Wir haben eine andere Geschichte dazu erfunden, das sind 35 alte Leute, nackte Menschen auf der Bühne, die nichts mehr haben. Das betrifft die Kürzungen der Renten, Ein-Euro-Jobs und, und, und. Die Armut, die immer mehr zunimmt, und die Reichen, die immer reicher werden, die haben wir versucht, in den "Maskenball" einzubauen. Was in Amerika ja ganz klar ist, da gibt es keine sozialen Strukturen. Wenn man keine Zähne hat, hat man auch keine, und wenn man kein Geld hat, kann man sie nicht kaufen. Diese Struktur ist bei uns neu in Verdi.

Meyer: Sie machen ja bis heute ein dezidiert politisches Theater, wir hören es, auch gerade bei dem Beispiel, das Sie beschreiben, als einer der Letzten eigentlich, die 1968 aufgebrochen sind. Fühlen Sie sich nicht inzwischen ziemlich einsam dabei?

Kresnik: Einsam ja, aber ich werde bestimmt nicht nachgeben. Weil wenn man die "Bild"-Zeitung liest, weiß man genau, was los ist auf der Welt. Man muss nur 100 Prozent anders denken, was politisch steht, da ist man auf dem richtigen Weg. Aber ich fühle mich nicht einsam, ich fühle mich im Prinzip sehr bestätigt. Nur leider sind die Intendanten über den Druck der Politiker nicht mehr fähig, freie Themen zu wählen.

Meyer: Von 1968 bis zum "Maskenball" im World Trade Center – das politische Theater von Johann Kresnik. Herr Kresnik, vielen Dank für das Gespräch!

Kresnik: Bitte sehr.