"Wen? Wie? Was? Wohin?"
Als Baumeister einer musikalischen Kathedrale erscheint Johann Sebastian Bach in seiner doppelchörig besetzten Matthäus-Passion, dieser dramatischen Erzählung des biblischen Stoffes um Verrat, Liebe und Opfer.
Beinahe wäre Bach gar nicht Thomaskantor geworden. Leipzig wollte "einen berühmten Mann" in diesem Amt. Nach Telemann, Fasch und Graupner nur vierte Wahl, schuf er hier bis zu seinem Lebensende überragende Werke, immer getreu dem Motto "Soli Deo Gloria" – "Dem höchsten Gott allein zu Ehren".
Im Dienstvertrag hatte der Rat der Stadt Leipzig zwar ausdrücklich festgehalten, dass die Kompositionen des Thomaskantors nicht den liturgischen Ablauf stören sollten, aber der tiefgläubige Bach setzte sich über alle Maßregelungen hinweg: "Bey einer andächtig Musik ist allezeit Gott mit seiner Gnaden Gegenwart", notierte er. Als die Matthäus-Passion zum Karfreitags-Gottesdienst 1727 oder 1729 in der Leipziger Thomaskirche uraufgeführt wurde, dürfte das Publikum trotzdem überfordert gewesen sein: einerseits von der Länge (zweigeteilt jeweils fast anderthalb Stunden, unterbrochen von einer langen Predigt), andererseits von der Zusammenstellung, die zu dieser Zeit durchaus als theatralisch galt. Und die Choräle konnten von der Gemeinde nicht mitgesungen werden – so komplex, wie Bach sie gesetzt hatte! Und warum gab es eigentlich zwei Chöre und zwei Orchester?
Aus der Kirche in den Konzertsaal
Die physische Erschütterung des Hörers hat Bach durchaus mitkomponiert – und sie war nicht an die Entstehungszeit gebunden. Direkt angesprochen fühlte sich etwa der junge Bertolt Brecht, der sich während einer Aufführung der Matthäus-Passion um seine Gesundheit sorgte: in "ein wildes Koma" sei er damals gefallen. Heute gehört Bachs Matthäus-Passion wie kein anderes Werk in diese Zeit des Kirchenjahres, und längst hat sie ihren Weg auch aus der Kirche in den Konzertsaal gefunden.
"Interpretationen" liefern allein schon die jeweiligen Erzähler, die Evangelisten, die durch das Geschehen führen. "Interpretationen" bietet aber auch das Textkonglomerat, das Bach aus dem 26. und 27. Kapitel des Matthäus-Evangeliums, aus Kirchenliedstrophen hauptsächlich von Paul Gerhardt sowie aus freier Dichtung von Christian Friedrich Henrici alias Picander zusammengestellt hat. Gleichfalls wird über die Besetzungsgröße zu sprechen sein, von spätromantisch großen Chören über kammermusikalisch verschlankte bis hin zu solistischen Aufnahmen, wie sie der amerikanische Musikforscher Joshua Rifkin anregte.
Mit roter Tinte
Mit über 50 Jahren schrieb Bach seine Partitur der Matthäus-Passion noch einmal ab. Die Handschrift ist ein kalligrafisches Meisterwerk und dokumentiert Bachs einzige Verwendung von roter Tinte – für die Bibeltexte. Obwohl das monumentale Werk nie ganz vergessen war, leitete Felix Mendelssohn Bartholdy ein Jahrhundert später mit seiner Aufführung eine Wiederentdeckung Bachs ein.
Unser Studiogast ist eine Instanz, denn er ist der 17. Thomaskantor nach Bach: Es ist der Sänger und Dirigent Gotthold Schwarz, der sich am Uraufführungsort der Matthäus-Passion, der Leipziger Thomaskirche, mit seinem weltberühmten Thomanerchor um die Bachpflege verdient macht – und der dennoch nicht glaubt, dass dieses Stück jemals ganz durchleuchtet werden kann.