Auf der Suche nach dem Ursprung
Ein Mittelalterhistoriker liest die Spuren: Mit die "Die Anfänge der Deutschen" erforscht Johannes Fried den Ursprung einer Nation. Die Neuauflage des umfangreichen Werks bietet eine erhellende Lektüre – profundes Interesse an mittelalterlicher Geschichte vorausgesetzt.
Passt der Titel? Johannes Fried erzählt die Geschichte der Karolinger und der Ottonen. Er verfolgt Aufstieg und Niedergang des frühmittelalterlichen Frankenreiches, das vom Atlantik bis nach Sachsen reichte und in Rom die Kaiserherrschaft begründete. Er beschreibt den Zerfall des Karolingerreiches im 9. Jahrhundert in die Herrschaftsbereiche, aus denen heraus sich die späteren Nationalstaaten Frankreich und Deutschland entwickelten. Insofern passt der Titel - doch mutet er merkwürdig an. Und das Befremden steigert sich bei mancher Kapitelüberschrift - "Das Werden der Einheit" – oder beim ersten Satz des Vorworts: "Wer waren die Menschen, die Deutschland schufen?"
Frieds voluminöses Buch ist 1994 erstmalig erschienen. Es war die Antwort des Mittelalterhistorikers auf die Identitätssuche der Deutschen. Dieser Hintergrund scheint in der überarbeiteten Neuauflage durch, vor allem in dem Bemühen, die historischen Prozesse im 7. bis 11. Jahrhundert als Frühgeschichte Deutschlands zu beschreiben. Manchmal hat es teleologische Züge – als ob die mittelalterlichen Menschen Deutschland geschaffen hätten.
Wie sinnvoll ist die Neuauflage?
Kann man ein solches Buch heute noch einmal auflegen? Die Frage nach 1990, was links und rechts des abgebauten Eisernen Vorhangs Ost- und Westdeutschland miteinander verbindet, bewegt die Nation nicht mehr. In diesem Sinne müssen wir uns nicht mehr "das Werden der Einheit" in mittelalterlicher Zeit erklären lassen. Heute, in Zeiten massenhafter Migration, liest man eine solche Geschichte mit anderen Augen. Deutschland ist nicht mehr die einst beschworene Schicksalsgemeinschaft, die in mythischer Vorzeit wurzelt und die aus diesen Wurzeln ihre Kraft zieht, sondern ein Land, dessen Bevölkerung sich zu wachsenden Teilen durch Wanderungsprozesse aus verschiedenen Teilen der Welt zusammensetzt.
Interessant ist: Trotz des erkennbaren Hintergrundes seiner Entstehung bietet Frieds Buch auch aus dieser Perspektive eine erhellende Lektüre. Das aufdämmernde deutsche Reich, das er beschreibt, entstand weder nach Plan noch mit logischer Konsequenz, sondern aufgrund von dynastischen Zufälligkeiten, dem fränkischen Erbrecht oder diversen Thronfolgeproblemen.
In diesem Sinne verfolgt Fried die mittelalterlichen Spuren deutscher Vor- und Frühgeschichte und landet dabei vor allem in der Epoche, die ihn am meisten fasziniert: in der Zeit Karls des Großen. Auch wenn er dessen dunkle Seiten nicht ausspart, Fried ist hingerissen von diesem frühmittelalterlichen Herrscher: Wie er als Kriegerfürst ein Reich aufbaute und zugleich die erste kulturelle Blüte nach dem Untergang des Römischen Reiches erzeugte.
Auf 950 Seiten bietet Fried eine überaus komplexe Darstellung der frühmittelalterlichen Jahrhunderte, er verbindet Personen- mit Strukturgeschichte, allerdings vorwiegend aus der Perspektive der jeweiligen Herrscher. Schonungslos schildert er die mörderischen Gesetze eines Lebens ohne staatliche Institutionen. Man schaudert bei dem Gedanken, unsere staatliche Ordnung könne sich auflösen und an die Stelle träte der, wie es in der Fachsprache harmlos heißt, "Personenverbandsstaat". Welch ein Segen die Institutionalisierung von Herrschaft ist, ist eine der Lehren dieses Buches.
Profunde Mittelalterkenntnisse sind Voraussetzung
Es ist gut geschrieben, setzt aber auch ein profundes Interesse an mittelalterlicher Geschichte voraus. "Was ist deutsch", fragt Fried am Schluss und lenkt die Aufmerksamkeit auf einen Punkt, über den nachzudenken sich lohnt: dass das erste deutsche Kollektivbewusstsein um die Jahrtausendwende bei den Kriegern entstand, die über die Alpen nach Italien zogen und sich als Fremde und Barbaren erlebten. Sie spürten die Notwendigkeit, sich an die höhere Kultur der Nachbarn anzupassen. Was blieb, war, dass die Deutschen "sich selbst immer ein wenig fremd gegenüberstehen".