Johannes Fried: Dies Irae. Eine Geschichte des Weltuntergangs
C. H. Beck Verlag, München 2016
352 Seiten, 26,95 Euro
Die ganz moderne Apokalypse
Johannes Fried zeichnet in "Dies Irae" die Vorstellungen der Menschen über den Weltuntergang seit der Antike nach. Ein lehrreiches Buch, das ganz nebenbei entlarvt, wie stark wir heute immer noch in mittelalterlichen Denkmustern verhaftet sind.
Der Untertitel von "Dies Irae" ist irreführend: Eine "Geschichte" des Weltuntergangs kann es nicht geben, markiert dieser doch das Ende der Menschheit und der Zeit, mithin aller geschichtlichen Prozesse. Der Weltuntergang, so Jacques Derrida, existiert "nur dadurch, daß man von ihm spricht, und nur dort, wo man von ihm spricht." Das neue Buch des Historikers Johannes Fried ist eine Geschichte der Weltuntergangsgeschichten von der Antike bis heute.
Der Haupttitel des Buches ist der Totenmesse entlehnt und meint jenen "Tag des Zorns", an dem die Welt in glühender Asche vergehen soll. Der Weltuntergangsglaube ist, so der Autor, zuvorderst eine lateinisch-christliche Angelegenheit. Nur das Christentum kennt – beeinflusst vom Judentum – "in linearer Heilsgeschichte einen dauerhaften Untergang der stofflichen Welt", der "immer wieder als bevorstehend" verkündet wird. Religionen, die Weltgeschichte in Zyklen begreifen, kennen keine vergleichbare Denkfigur.
Der Weltuntergang prägt die christliche Ethik
Im christlich geprägten "Westen" ist die Vorstellung vom baldigen Ende aller Dinge die prägende Kraft schlechthin: "Die ganze 'westliche' Kultur formte sich nach den Bedürfnissen für den herbeieilenden Untergang." Die Denkfigur des Weltuntergangs prägt die christliche Ethik, die Erforschung des Wetters, der Gestirne, die Haltung zu Vergangenheit und Zukunft. Im "Säurebad der Aufklärung" löste sie sich nicht auf, sondern wechselte nur den Aggregatszustand, wurde in politische, sozialutopische und naturwissenschaftliche Diskurse sowie die Künste verschoben. Die "zugrunde liegende Erwartungshaltung war längst internalisiert, war zum kulturellen Habitus geworden", so Fried.
Wenn Astrophysiker heute nach dem Ursprung und mutmaßlichen Ende des Universums forschen, wenn Historiker von einer "zielgerichteten Perspektivität" geschichtlicher Entwicklungen ausgehen, dann bewegen sie sich im Denkmuster der christlichen Apokalyptik. Frieds Fazit: Wir sind dem Mittelalter und seinem Welt(untergangs)bild "näher, als uns lieb sein kann."
Meisterhaft das apokylptische Denken nachgezeichnet
Die Kapitel über Mittelalter und frühe Neuzeit bilden den klaren Höhenrücken des Buches. Mit stupender Gelehrtheit, eindringlich, begeistert, bisweilen mit geradezu expressionistischem Gestus und anhand zahlloser historischer Quellen, Farbtafeln und Schwarzweiß-Abbildungen zeichnet Fried meisterhaft die Spannungen nach, denen das apokalyptische Denken ausgesetzt war.
Die Beschreibung der zeitgenössischen Ausformungen des apokalyptischen Diskurses in (Pop-)Kultur und Wissenschaft fallen leider ab. Der Autor beklagt, dass solche Aneignungen der Weltuntergangsmotivik niemanden mehr "in einem umfassenden Sinne existentiell erschüttern" zu vermögen; das Wesen der Popkultur, dessen spielerischer Umgang mit althergebrachten Zeichen und Codes, scheint ihm fremd. Und wenn er pauschal schreibt: "Ein 'apokalyptisches Lebensgefühl' hat sich breitgemacht, Seinsvergessenheit und Sinnverlust drohen", dann klingt er wie einer jener Propheten des Niedergangs, über die er doch ansonsten in angemessen kritischer Distanz schreibt.