Von Grund auf angewidert
Johannes Haller war einer der bedeutendsten Historiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts und prägte maßgeblich das Geschichtsbild der Deutschen. Ein neuer Band versammelt nun seine Briefe. Der Band enthüllt Überraschendes über Haller und sein Verhältnis zu Deutschland. Vergnüglich zu lesen und hervorragend kommentiert.
"Die Epochen der Deutschen Geschichte" von Johannes Haller waren bis in die sechziger Jahre des vergangen Jahrhundert fast in jedem deutschen Haushalt vorhanden. Kein Historiker hatte nach dem Ersten Weltkrieg einen solchen Einfluss auf das Geschichtsbild der Deutschen. Paradoxerweise. Denn dieser deutsche Balte - 1865 geboren, in Reval aufgewachsen, ab 1913 Professor in Tübingen, wo er 1947 starb - war nie heimisch in Deutschland geworden, das er 1892 zum ersten Mal kennen lernte. Davon handeln immer wieder seine Briefe, die jetzt Benjamin Hasselhorn und Christian Kleinert in einem vorzüglich kommentierten Band herausgeben haben. Der Inbegriff der ihn enttäuschenden Deutschen war für ihn Berlin. 1895 schrieb er, längst in Rom lebend, auf der Durchreise:
"O dieses Berlin! Ich will nicht weiter klagen, da ich hoffe, wenn ich diesmal hübsch artig bin, nie wieder diesen Ort der Pein aufsuchen zu müssen. Es ist freilich stilvoll: hässlich bis zur Unmöglichkeit, Häuser, Straßen, Denkmäler, Wetter und vollends die Menschen! Alles zusammen in einem Stil, für den ich mir das schönklingende Wort‚ der 'knoteske Stil' gebildet habe."
"Knotesk" lehnt sich an den Studentenjargon an, in dem ein unerzogener, arroganter Kerl Knote genannt wurde. Unmanierlich kamen Haller dort beinahe alle Angestellten im Wissenschaftsbetrieb vor, geprägt von ihren Berliner Unfehlbarkeiten, deren Frechheiten sie nachahmten.
"Die Herren treten alle so auf, als hätten sie persönlich die Schlachten von Königgraetz und Sedan gewonnen, eine Eigenschaft, die man bei so ziemlich der ganzen jungen Generation in Deutschland beobachten kann. Dabei steht ihre ungeheure Anmaßung und entsprechende Unhöflichkeit durchaus im umgekehrten Verhältnis zu ihren Kenntnissen: sie sind oft über elementare Dinge gar nicht unterrichtet."
Verdrossen von geistiger Kleinkrämerei
Johannes Haller schätzte die Liebenswürdigkeit und geistige Beweglichkeit der Petersburger, die formale Eleganz der Pariser, den berühmten Charme der Wiener und vor allem die Lebenskunst der Römer. Das alles vermisste er schmerzlich in Berlin und Deutschland. Dort geriet er vielmehr in die "jämmerliche Gesellschaft von Stellenjägern und Komödianten und Pedanten, die man in Deutschland 'akademische Kreise' nennt".
Dort, so spottete Haller, dominierten Typen wie Rudolf Virchow, "der sich bei seinem jahrzehntelangen wissenschaftlichen Nichtsleisten vor der öffentlichen Meinung durch Congreßreisen und dazu gehörigen Weihrauchreden zu behaupten weiß......Ich kann es nun einmal nicht verhehlen, dass mich an dem Treiben der gelehrten Kreise Deutschlands, in die ich nun einmal hineingefallen bin, das Meiste von Grund aus anwidert".
Die geistige Kleinkrämerei seiner Kollegen verdross ihn. Historische Zeitschriften, die sie mit ihren Fleißarbeiten füllten, verspottete er als Sammelkasten für wissenschaftliche Nichtigkeiten. Hübsch artig wurde er also nie.
"Und da ich wohl auch nicht das Talent habe, meine Urteile in milde Formen zu kleiden, so ist das Rezensieren der sicherste Weg, mich mit aller Welt zu verfeinden."
Das ist Johannes Haller gründlich gelungen, weil er nicht abließ, sich zu empören:
"Welche Anmaßung und Dummheit zugleich, was drei oder vier Nullitäten einander nachsprechen, für das Urteil der 'Wissenschaft' zu erklären."
Haller hielt die NSDAP für vulgär
Johannes Haller war ein großer Musiker, ein Kenner der Kunst und der Literatur. Seine Werke sollten auch Kunstwerke sein, soweit die Wissenschaftlichkeit das noch zuließ. Er kultivierte seine geselligen Tugenden als entzückender Gastgeber und plauderte geistreich und verspielt in fünf Sprachen. Mit der Arbeit hörte er um zwei Uhr mittags auf. Er spielte dann Klavier, las Romane oder schrieb Briefe. All das aber hielt ihn nicht davon ab, immer wieder ausgerechnet mit Hitler Hoffnungen für die Zukunft Deutschlands zu verbinden. Seine "Epochen der Deutschen Geschichte" erweiterte er zu Nazi-Zeiten um anerkennende Passagen zu den deutschen Annexionen. Zugleich hielt er die NSDAP für ebenso vulgär wie die meisten ihrer Funktionäre.
Zu Beginn des Jahres 1941 schrieb er einem alten Freund die späte Erkenntnis:
"Zerstörung, Verarmung, unauslöschlicher Hass überall – und wo sind die Kräfte des Wiederaufbaus, der Neuordnung und Versöhnung, mit einem Wort des wahren Friedens? 'Wir gehen einer sehr gemeinen Zeit entgegen', schrieb Niebuhr 1815; die Zeit, der wir entgegen gehen, wird schlimmer als gemein, das heißt gewöhnlich sein."
Es ist das Zeitalter des kleinen Mannes, dessen Anbruch ihn schon um 1895 in Berlin und Preußen deprimierte.
Johannes Haller (1865-1947): Briefe eines HistorikersBearbeitet von Benjamin Hasselhorn nach Vorarbeiten von Christian KleinertDe Gruyter Oldenbourg679 Seiten, 109,95 Euro