Johannes V. Jensen: "Himmerlandsgeschichten"
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg
Mit einem Nachwort von Reinhard Kaiser-Mühlecker
Guggolz Verlag, Berlin 2020
238 Seiten, 22 Euro
Das Leben, wie es ist
06:35 Minuten
In den "Himmerlandsgeschichten" erzählt Johannes V. Jensen von Verwahrlosung, Mord und Vergewaltigung. Die kraftvollen Erzählungen des dänischen Autors und Nobelpreisträgers erschienen erstmals 1989. Jensens Geschichten nun wieder neu zu entdecken lohnt sich.
Es hat eine gewisse Ironie, dass Johannes V. Jensen der Nobelpreis 1944 verliehen wurde, als er seinen literarischen Zenit längst überschritten hatte. In der Lyrik hatte er schon 1906 einen epochemachenden Gedichtband veröffentlicht, der mit stolzer Schlichtheit den Titel "Gedichte 1906" trug. Acht Jahre früher war der erste Band seiner Erzählungen erschienen, die alle in seiner jütländischen Heimat Himmerland spielen (einer Gegend südlich von Aalborg).
Kraftvoller und realer Ton
Ob sie damit zur Heimatliteratur gehören, ist nicht ohne Weiteres zu beantworten. Nostalgisch sind sie sicher nicht, aber sie sind auch nicht kritisch. Sie sind nicht harmlos, aber im großen Ganzen auch nicht außergewöhnlich tragisch. Jensen ist seinen Figuren sehr nah, die Schilderungen sind überzeugend authentisch, und doch fühlt man durch den zugleich kraftvollen und "realen" Ton die erzählerische Distanz. Die Geschichten gehören dennoch zur Heimatliteratur, weil sie die Gegend, aus der Jensen stammt, beschreiben – nicht mehr und nicht weniger. Aber sie enthalten sich jeglichen Urteils. Manchen wird es womöglich nicht gefallen, in unserer moralisierenden Zeit Geschichten lesen zu müssen, denen eine Moral völlig fremd zu sein scheint.
Vorurteilsloser Blick auf das Leben
Vom Sujet her erinnert Jensen an die Schweizer Gottfried Keller und Jeremias Gotthelf. Ein Vorbild in Dänemark könnten die Erzählungen von Steen Steensen Blicher sein, der ähnlich wie Jensen historische Personen aus seiner jütländischen Heimat (bei Blicher war es die Heide-Gegend südlich von Viborg) zu literarischen Gestalten gemacht hat. Blicher betrachtet mehr die sozialen Umstände der Leute, Jensen hat eher eine existentielle Sicht, er behandelt die Wege und Umwege des Willens, die Sexualität und das Geschlecht als Schicksal, die Unumgänglichkeit des Todes. Beide aber vereint der vorurteilslose Blick auf das Leben, wie es ist.
Keine Pointe, keine Moral
Eine alte Frau erzählt von einem Mädchen, das von einem Mann vergewaltigt wird, der sie tatsächlich liebt, es aber nicht anders ausdrücken kann. Er bereut seine Tat, macht es noch schlimmer, indem er ihren Hof anzündet, doch sie lässt sich von ihm retten und heiratet ihn. Zwei junge Menschen sind einander versprochen, doch ohne ersichtlichen Grund will sie nicht mehr, er lässt seine Hof verkommen, der ihre wird nur mit Hilfe eines Verwandten vorm Untergang gerettet, sie wird alt und lebt mit Möpsen und einem Schaf und hält ihren einstigen Bräutigam, der mittlerweiile zum Mörder geworden ist, erst wieder in den Armen, als er sein Leben aushaucht. Keine Pointe, keine Moral. Es ist, wie es ist.
Johannes V. Jensens Haltung erinnert auch an den vier Jahre älteren Schweden Hjalmar Söderberg, der lange in Kopenhagen gelebt hat (und im Gegensatz zu Jensen ganz und gar Stadtmensch war) – Söderbergs Leitmotiv oder Lebensmotto lautete: "Es könnte sein, dass der Sinn des Lebens ganz einfach ist, zu leben und dann zu sterben."