John Burnside: "Wie alle anderen"

"Normalität sieht anders aus"

John Burnside , aufgenommen am 08.10.2014 auf der 66. Frankfurter Buchmesse in Frankfurt am Main (Hessen).
"Die Gesellschaft an sich ist verrückt", meint der schottische Schriftsteller John Burnside. © picture-alliance / dpa / Arno Burgi
Von Tobias Wenzel |
Im Bestseller "Lügen über meinen Vater" hat John Burnside seine Kindheit bei seinem gewalttätigen, alkoholkranken Vater beschrieben. Sein neues Buch "Wie alle anderen" handelt von seiner eigenen Alkoholsucht und Schizophrenie - und wie er versucht, ein normales Leben zu führen.
Die Möwen sind einfach überall in St. Andrews. Selbst vor der altehrwürdigen Eliteuniversität der Kleinstadt an der Ostküste Schottlands machen sie nicht Halt.
"Hier gibt es Maßnahmen, mit denen die Möwen verscheucht werden sollen. Wenn die Leute aber draußen ihr Butterbrot essen, schnappen es die Möwen ihnen einfach weg. Ungeachtet der Schilder mit der Aufschrift Möwen nicht füttern."

"Bücher lesen ist etwas für Weicheier"

John Burnside spaziert über das Universitätsgelände, bei dem man sofort an "Harry Potter" denken muss. Hier lehrt der 61 Jahre alte schottische Schriftsteller und Dichter Kreatives Schreiben. Er betritt ein Seitengebäude und schließt sein Büro auf:
"Hier herrscht absolutes Chaos."
Romane von Thomas Pynchon und Don DeLillo sind zu sehen, Kinderzeichnungen an Wand und Regal. Am Boden eine transparente Kiste mit bunten Lego-Steinen. Auf dem Schreibtisch Fotos seiner zwei Söhne, auf die John Burnside merklich stolz ist. Wäre sein Vater wohl auch auf ihn stolz gewesen, wenn er noch mitbekommen hätte, wie sein Sohn Professor an der St. Andrews University wurde?
"Ich weiß es nicht. Als Teenager wollte ich Musiker werden. Da hat mein Vater gesagt: Leute wie wir werden keine Pianisten. Wir arbeiten im Stahlwerk oder in der Kohlenmine. Es hätte ihn wohl beeindruckt, dass ich jetzt mehr Geld verdiene als er. Aber er hätte gesagt: Das ist etwas für Weicheier, Bücher lesen und mit Studenten sprechen."

"Normalität sah anders aus"

In "Lügen über meinen Vater" hat John Burnside seinen alkoholsüchtigen und grausamen Vater porträtiert. Einmal verbrannte der Vater den Teddybären des Sohnes.
In "Wie alle anderen", dem Fortsetzungsband, erinnert sich Burnside nun, wie er selbst in den 80er-Jahren nach Alkohol und Drogen süchtig war und außerdem schizophren. Damals beschloss er, wie alle anderen zu sein, also ein normales Leben zu führen. Überraschenderweise bekam er, der als Gärtner arbeitete, eine Stelle als Programmierer beim Landwirtschaftsministerium.
"Die Kollegen wussten, dass ich nicht normal war. Niemand fragt einen normalen Menschen: Würdest du meine Frau für mich töten? - Aber genau darum hat mich ein Kollege gebeten. Selbst in Anzug und mit Krawatte musste ich wohl etwas an mir haben, was Menschen denken ließ: Der ist der Typ, der meine Frau für mich umbringt. Auch wenn sie damit natürlich falsch lagen. Dann hatte ich noch Rückfälle mit psychotischen Schüben. Normalität sah anders aus."

Das Schreiben rettet ihn vor der Selbstzerstörung

Auch Alkohol trank er wieder. Burnside beschreibt in diesem wunderbar sensiblen und sprachlich herausragenden Buch, wie er noch heute manchmal, wenn auch in stark abgeschwächter Form, Wahnvorstellungen hat und unter Schlaflosigkeit leidet. Dann fühle er sich den Toten nah:
"Nachts stehe ich auf, streiche durchs Haus und lausche ihren Stimmen, sehe sie, wie sie einst waren, und die alte religiöse Vorstellung, das Leben sei ein Geschenk, scheint mir dann akzeptabler als meist im hellen Tageslicht. So oft wie es nur geht, bleibe ich allein, doch fühle ich mich nie völlig allein, solange die Toten da sind, die Toten in ihren Uniformen, Schürzen oder Sonntagskleidern."
Mithilfe von Büchern toter Autoren, mit dem Lesen allgemein und auch dem Schreiben rettete er sich schließlich vor der Selbstzerstörung.

"Die Gesellschaft an sich ist verrückt"

John Burnside hat ein grandioses Buch über den - zum Glück - gescheiterten Versuch geschrieben, wie alle anderen zu sein, und über die Frage, was überhaupt normal und was verrückt ist.
"Es gibt Verrückte wie Donald Trump. Ich halte ihn für geisteskrank. Überhaupt jeden, der Millionen oder Milliarden Dollar anhäufen will. Die Gesellschaft an sich ist verrückt. Das System erlaubt es den meisten Menschen nämlich nicht, ethisch korrekt zu leben. Wir sind sehr gut darin, Psychosen einzelner Menschen auszumachen. Aber wir sehen nicht die allgemeine Psychose um uns herum."
Er suche nach einer Alternative zu "normal" und pathologisch "verrückt", schreibt Burnside und erzählt im Gespräch, dass er manchmal sogar fündig werde. Was er meinen könnte, wird nach dem Interview greifbar, als seine Familie ihn abholt und sein jüngster Sohn ins Büro des Vaters rennt, im gelben Ganzkörperkostüm: ein Pokémon-Monster in der Elite-Universität von St. Andrews.

John Burnside: Wie alle anderen
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
München, Knaus, 2016, 314 Seiten, 19,99 Euro

Im Oktober und November ist John Burnside mit dem Buch auf Lesereise in Deutschland: 12.10. Berlin, 13.10. Hamburg, 18.10. München, 19.10. Heidelberg, 27.11. Karlsruhe, 28.11. Esslingen.

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