Gesine Palmer, geboren 1960 in Schleswig-Holstein, ist Religionsphilosophin. Sie studierte evangelische Theologie, Judaistik und allgemeine Religionsgeschichte in Lüneburg, Hamburg, Jerusalem und Berlin. 2007 gründete sie in Berlin das "Büro für besondere Texte" und arbeitet seither als Autorin, Trauerrednerin und Beraterin. Ihr wiederkehrendes Thema sind Religion, Psychologie und Ethik – im Kleinklein der menschlichen Beziehungen wie im Großgroß der Politik.
Tödlicher Missionsversuch

Ein Missionar, von Eingeborenen mit Pfeilen getötet - das klingt nach 19. Jahrhundert, ist aber gerade erst passiert. Der Fall wirft für Gesine Palmer zahlreiche Fragen auf: etwa, was für ein Glaube den jungen Missionar da eigentlich angetrieben hat.
Von manchen Dingen erfährt man erst, wenn etwas richtig schief gegangen ist. Oder haben Sie etwas von North Sentinel Island gewusst, bevor der junge John Chau sich aufmachte, den Insulanern die Bibel und einen Fußball zu bringen, und dabei getötet wurde? Haben Sie gewusst, dass die Inder, zu deren Staatsgebiet die Andamanen gehören, schon in sieben Bundesstaaten ein Gesetz haben, das jeden Missionsversuch unter ernsthafte Strafe stellt? Haben Sie gar gewusst, dass die indischen Behörden 1996 die Insel zu einer unzugänglichen Zone erklärt haben und nicht mehr versuchen, mit dem winzigen dort lebenden Völkchen Kontakt aufzunehmen? Das Verbot, dem Gebiet der Sentinelesen zu nahe zu kommen, dient auch dem Schutz der Insulaner – denn bei Berührung mit Keimen, gegen die andere Menschen Abwehrkräfte haben, können sie allzu leicht tödlich erkranken.
Kinderglaube oder religiöser Wahn?
Das Verblüffende an dieser neuesten Geschichte aus dem ganz alten Zusammenprall der verschiedenen Völkerwelten ist: John Chau hat das alles gewusst. Er war gut informiert. Und er hat zugleich in einem Glauben gelebt, von dem man nicht weiß, ob man ihn halb gerührt als Kinderglauben oder doch eher als religiösen Wahn bezeichnen soll.
Er wollte nicht zu kleingläubig sein für die große Sache der Mission, die schließlich in der Bibel, Mt 28,19f geboten wird, und er fühlte sich nach dem ersten Landungsversuch bestätigt: Seine Bibel hatte ihn vor den Pfeilen der überaus wehrhaften Sentinelesen geschützt. Er stand also unter Gottes Schutz. So steht es jedenfalls in seinem Tagebuch.
Aber vielleicht war es eher eine gutmütige Warnung gewesen? Jedenfalls hat Gott in seinem unerforschlichen Ratschluss anderntags seinen Schutz von Chau zurückgezogen und auf die Sentinelesen übertragen – oder mit beiden böse gespielt. Denn am 17.11. haben einige Angehörige dieses unerforschten Stammes den jungen Amerikaner nach Auskunft einiger in gebührender Entfernung wartender Fischer getötet und seine Leiche am Strand vergraben. Wenn es dabei zu Keimübertragungen gekommen ist, wie diejenigen fürchten, die sich um den Bestand des Inselvölkchens sorgen, wäre das eine harte Lose-Lose-Situation. Nur wir hier, Zuschauer immer und überall, wir hätten mal wieder reichlich Stoff zum Nachdenken bekommen.
Der Fall, von vielen Kommentator*innen als "eine Geschichte aus dem 19. Jahrhundert" charakterisiert, wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet.
Wie kann es sein, dass in der westlichen Welt immer noch Menschen in vermeintlich wörtlicher Auslegung unserer gebildet durchinterpretierten heiligen Schriften so einen gefährlichen Unsinn machen?
Sollen wir wirklich glauben, dass von uns Eingeborenen einer komplett in durcherforschte und digitalisierte Hoheitsgebiete unterteilten Erde niemand auf die Idee kommt, mit ein paar Aufklärungsdrohnen etwas über die Nöte und Bedürfnisse der Sentinelesen in Erfahrung – und Licht in diese Causa zu bringen?
Fällt noch jemandem auf, wie absurd die in Indien gestellte Mordanzeige gegen Unbekannt ist? Die Insel gehört ja zwar zu Indien, aber ihre Bewohner wissen nach allem, was wir über sie wissen, nicht, dass sie unter indischem Recht stehen. Sie können sich also gegen dieses auch nicht absichtlich und aus niederen Motiven vergehen. In ihrem eigenen Glauben, auch wenn wir sonst nichts über ihn wissen, werden die Sentinelesen also, wann immer sie wieder einen vermeintlichen Eindringling beschießen, einfach nur ihre Grenzen verteidigen. Wie es auch mehr oder weniger moderne Nationalstaaten oder Staatenbünde tun, wenn sie können.
Fällt jemandem – von der Anzeige abgesehen – auf, welche unerhört unwestliche Geste der indische Staat sich leistet, indem er seine Hoheit über diese Insel nur nutzt, um die dort lebenden Menschen in Ruhe zu lassen?
Eine neue Kultur der Nichterforschung und Nichtmission
Neu an der Geschichte ist also vor allem dieses: Das postkoloniale Zeitalter hat offenkundig eine Kultur der Nichterforschung und der Nichtmission hervorgebracht! In einer Welt, in der die Nachrichten oft vom Kampf zwischen zwei einander entsetzlich ähnlich eifernden und missionierenden Kulturen dominiert werden, ist der Hinweis auf die Idee, Leute einfach mal in Ruhe zu lassen, der einzige erhebende Aspekt dieser misslungenen Mission.