John Coltranes "Both Directions at Once"

Ein neues, altes Album der Jazz-Legende

Porträt des Jazz-Saxofonisten John Coltrane aus dem Jahr 1963
Ein Album des Jazz-Saxofonisten John Coltrane erscheint nach 55 Jahren. © imago / Philippe Grass / LexPictorium
Von Karl Lippegaus |
Es ist eine Sensation: Nach mehr als fünf Jahrzehnten gibt es ein lange verschollenes Album des legendären Saxophonisten John Coltrane. "Both Directions at Once" heißt die zuvor noch nie gespielte öffentliche Platte.
Allein in den ersten drei Monaten absolvierte das Coltrane-Quartett 65 Auftritte in den großen Städten. Seine Frau Naima sagte:
"Alles was John tut ist Üben. In vielen Nächten schläft er ein, während er das Horn noch im Mund hat."
Das Frappierende an den jetzt aufgetauchten Aufnahmen kann mit einem Wort beschrieben werden: Inbrunst. Wir erleben das legendäre Quartett nach drei Jahren harter Arbeit auf dem Gipfel ihres gemeinsamen Könnens. Coltrane nannte es die Suche nach Wahrheit.
"Ich glaube, die Mehrzahl der Musiker ist an Wahrheit interessiert. Ein musikalisches Statement von Wert ist eine Wahrheit. Alle versuchen so nahe an Perfektion heranzukommen wie möglich. Um etwas Wahres zu spielen musst du in der Wahrheit leben."
Drei große Alben entstehen 1962. Von April bis September zirka 90 weitere Gastspiele, im November-Dezember die zweite Europa-Tournee, mit 20 Konzerten in 15 Städten. Permanent feilt der Workaholic Coltrane an seiner Kunst: "Der Ton hängt von dem ab, was du innerlich hörst. Und ist auch abhängig von den physikalischen Eigenheiten, wie etwa der Form und Struktur des Mundes und der Gurgel."


"Während man ein Solo spielt, passieren viele Dinge"

Coltrane: "Manche finden, ich sei wütend, wenn sie mich hören. Einige meinen, es gehe im Zorn. Ich fühle mich nicht zornig. Vielleicht wirkt es so, weil ich so viele Dinge ausprobiere. Alles, was ich versuche, ist mich durch diesen ganzen Berg hindurch zu arbeiten, um zur wahren Essenz vorzudringen."
Dem Plattenlabel Impulse sagt er zu, drei Alben aufzunehmen, die ein wenig kommerzieller werden sollen. Coltrane kontaktiert selbst den Sänger Johnny Hartman, dessen Namen er im Hinterkopf seit seiner Jugend gespeichert hat. Am frühen Nachmittag, einen Tag vor der Aufnahme mit Hartman entsteht die jetzt entdeckte Musik. Nach drei Jahren als Bandleader hat Coltrane sein Quartett zur Reife gebracht - was "Both Directions At Once" aus vielen Perspektiven zeigt.
Coltrane: "An manchen Abenden spüren wir am Anfang die Inspiration und sehen vor uns die Möglichkeit, gute Resultate zu erzielen, und dann scheint es unlogisch und unrealistisch, unsere Soli drastisch zu kürzen. Die Art wie ich spiele läuft zeitlichen Begrenzungen zuwider. Meine Ideen müssen sich natürlich entfalten in einem langen Solo."
Der 37-jährige sagt der "Detroit Free Press" in jenem Jahr:
"Was ich jetzt vernehme ist eine Bewegung hin zu freien Formen des Ausdrucks. Aber der Jazz geht nie in nur eine Richtung, sondern in alle. Jazz ist Emotion und alle möglichen Emotionen gilt es auszudrücken."
Nur vier Studiotermine werden für das Jahr 1963 verzeichnet. Aber wie immer viele Konzerte. Am Ende nach Europa, vom 22.10. bis 4.11., haben sie in 12 Städten 15 Auftritte.
Coltrane: "Während man ein Solo spielt, passieren viele Dinge. Vermutlich weiß man selber gar nicht, wie viele Stimmungen oder Themen man schafft. Man kann nie wissen, was die Leute denken. Hängt davon ab, was sie erlebt haben. Wenn du an einem Ort spielst, wo sie dich wirklich mögen, dich und die Band, kann es bewirken, dass du Dinge erfindest, die dir noch nie in den Sinn kamen."

Hören Sie zu dem Album auch ein Gespräch mit dem Musikjournalisten Wolf Kampmann:
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