John Gray: "Katzen und der Sinn des Lebens"

Die Welt mit Katzenaugen sehen

07:14 Minuten
Cover des Sachbuchs "Katzen und der Sinn des Lebens" von John Gray
© Aufbau

John Gray

Aus dem Englischen von Jens Hagestedt

Katzen und der Sinn des Lebens. Philosophische BetrachtungenAufbau , Berlin 2022

159 Seiten

20,00 Euro

Von Anne Kohlick · 04.03.2022
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Der britische Philosoph John Gray bewundert Katzen für die Gelassenheit, mit der sie der Welt begegnen. Uns Menschen empfiehlt er die Tiere als Vorbild – in seinem neuen Buch, das quer durch die Literatur- und Philosophiegeschichte führt.
“Wenn ich mit meiner Katze spiele – wer weiß, ob ich nicht mehr ihr zum Zeitvertreib diene als sie mir?”, fragte sich der französische Philosoph Michel de Montaigne im 16. Jahrhundert. Dieser Gedanke mag vielen Menschen, die mit Katzen zusammenleben, schon einmal durch den Kopf gegangen sein: Wer dient hier eigentlich wem? Lebt dieses Tier vielleicht ein zufriedeneres Leben als ich?
Ja, sagt der britische Philosoph John Gray. Schon seit 20 Jahren befasst sich der ehemalige Oxford-Professor mit den Unterschieden zwischen Mensch und Tier. 2002 wurde sein provokantes Buch “Straw Dogs” zum Bestseller: Unter dem Titel “Von Menschen und anderen Tieren. Abschied vom Humanismus” erschien seine Abrechnung mit dem Glauben an den Fortschritt und das Gute im Menschen 2010 auch auf Deutsch.
Grays neues Buch “Katzen und der Sinn des Lebens” knüpft an seine Überlegungen von damals an. Nachdem er das Gedankengebäude des Humanismus eingerissen hat, baut der Autor jetzt eine “Feline Philosophy” – so der englische Originaltitel – auf. Grundlage dafür ist die These, Glück sei bei Katzen der Zustand, “der sich von selbst einstellt, wenn konkrete Bedrohungen für ihr Wohlbefinden beseitigt sind”.

Wissen um die Endlichkeit des Lebens

Im Gegensatz dazu leben Menschen laut Gray in permanenter Angst, die sich aus dem Wissen um die Endlichkeit des Lebens ergibt. Da Katzen ein solches Bewusstsein nicht hätten, argumentiert Gray, lebten sie in einer Freiheit und Ruhe, die Menschen versagt sei. Philosophie und Religion – für den Autor nichts als erfundene Geschichten, mit denen wir uns eine Ewigkeit vorgaukeln, die es nicht gebe: “Wenn Katzen die Sinnsuche der Menschen verstehen könnten, sie würden schnurren, ergötzt von dieser Absurdität”, schreibt Gray. “Als die Katze zu leben, die sie nun einmal sind, ist für sie Sinn genug.”
In seinem elegant geschriebenen Buch nimmt uns der Autor, der selbst seit 30 Jahren mit Katzen zusammenlebt, mit auf eine Reise quer durch die Geschichte: zu Schriftstellerinnen und Philosophen, die wir er von Katzen gelernt haben.
Zitate von Michel de Montaigne, Spinoza, Patricia Highsmith oder Mary Gaitskill flicht er geschickt in seine Argumentation ein. Stets liefert Gray so viel Kontext, wie es braucht, um seinen Gedanken zu folgen. So bleibt “Katzen und der Sinn des Lebens” auch ohne viel Hintergrundwissen zugänglich.

Niemals Zuneigung heucheln

Das Buch schließt mit “Zehn Katzentipps für ein gutes Leben”, die Ideen aus dem Daoismus und Zen-Buddhismus nahekommen: So wie Katzen niemals Zuneigung heucheln, empfiehlt Gray, lieber Gleichgültigkeit gegenüber Mitmenschen an den Tag zu legen, als sich zur Liebe zu zwingen. Im Moment leben, Dinge um ihrer selbst willen tun, die einem Freude machen, kontemplieren, ohne die Welt verändern zu wollen – das ist der Weg, den John Gray empfiehlt.
Auch wenn dieses Buch ein kluges Lesevergnügen ist, bleiben am Ende Zweifel: Führt diese feline Philosophie nicht zu Passivität und Gleichgültigkeit? Macht es sich eine Ethik, die sich um andere wenig schert, nicht zu einfach? Und woher weiß John Gray überhaupt, was eine Katze Menschen raten würde?
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