John Green: "Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen? Notizen zum Leben auf der Erde"
Aus dem Englischen von Henning Dedekind, Friedrich Pflüger, Wolfram Ströle, Violeta Georgieva Topalova
Carl Hanser Verlag, München 2021
320 Seiten, 22 Euro
Bewertungssterne für unser Zeitalter
07:12 Minuten
Ob Supermarktkette, Hotdogs oder die Schönheit des Sonnenuntergangs – der Bestsellerautor John Green vergibt in seinem Sachbuch über das Zeitalter der Mensch-Dominanz Bewertungssterne. Was sich zunächst banal anhört, bringt einen doch zum Nachdenken.
Ein Stern oder fünf? Der Schriftsteller John Green fragt: "Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?" Auf der Suche nach einer Antwort verteilte er erst in einem Podcast und jetzt in diesem Buch Sterne für die Pest, Monopoly, Sonnenuntergänge und vieles mehr. In den Begründungen überschneiden sich Privates, Natur und Gesellschaft zu überraschenden Notizen unserer Zeit.
Feiner Sinn für Verknüpfungen
"Es ist Mai 2020, und mein Gehirn ist nicht dafür gemacht", lautet der erste Satz. Ein Gefühl, dass sicher viele nachempfinden können. Aber John Green rappelt sich auf, in dem er über den Song "You’ll never walk alone" schreibt. Die Irrwege seiner Entstehungsgeschichte, die vielen Male, in denen er selbst das Lied als Fan von Liverpool gesungen hat, bis hin zu Rettungssanitätern, die ihren Kollegen damit Mut machen wollen. Viereinhalb Sterne bekommt das Lied.
John Green hat einen feinen Sinn für Verknüpfungen. Den Halleyschen Kometen (4,5 Sterne) hat ihm sein Vater gezeigt, aber wie hat ihn Halley entdecken können? Wohl auch, weil der Sklavenhandel den Engländern den Freiraum gab, eine wissenschaftliche Revolution loszutreten. Velociraptoren (3 Sterne) führen ihn von der Urzeit zu Computeranimationen und der Frage, ob man den Sinnen überhaupt noch trauen kann. Einer Frage, die beim Kapitel CNN (2 Sterne) wiederauftaucht: "Weil es ständig neue Neuigkeiten zu berichten gibt, erhalten wir selten Hintergrundinformationen, anhand derer wir verstehen könnten, warum sich eine Neuigkeit ereignet."
Kein erhobener Zeigefinger, sondern Denkanstöße
Green liefert Hintergrundinformationen, aber nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern als Beobachtungen, Denkanstöße. Aus unterschiedlichen Perspektiven widmet er sich den immer wiederholenden Themen: das Verhältnis von Genie und Gesellschaft. Krankheiten, generell und Corona im Besonderen, Gerechtigkeit, Erinnern, die Natur. Und immer bringt John Green komplexe Gefühle auf den Punkt. "Vater. Ein Wort wie eine geladene Waffe." Weil er hohe Ansprüche an sich hat und das Baby vor ihm trotzdem untröstlich schreit.
Die kurzen Kapitel klingen sehr amerikanisch: Diet Dr Pepper (4 Sterne), Indianapolis (4 Sterne), Piggly Wiggly, eine Supermarktkette (2,5 Sterne), das Wetter in Indianapolis (noch mal 4 Sterne), Hotdogwettessen (2 Sterne), das Autorennen Indianapolis 500 (4 Sterne). Aber John Green nimmt auch die deutschen Leser mit. Er kennt unterhaltsame Details, nutzt sie, um große Fragen zu stellen. Vor allem aber betrachtet er alles aus einer radikal persönlichen Warte, schreibt über seine vielen Leiden, seine Familie, seine Berufe. Weil er sich für die größte Farbkugel der Welt (4 Sterne) interessiert, tun das auch seine Leser.
Zeitalter der Menschen-Dominanz
Am Ende will John Green kein Gesamturteil über das Anthropozän, das Zeitalter der Menschen-Dominanz fällen. Er fragt nur: "Was bedeutet es, in einer Welt zu leben, in der wir die Macht haben, Arten zu Tausenden auszurotten, in der aber auch ein einzelner RNA-Strang uns in die Knie zwingen oder sogar vernichten kann?" Die Antwort bleibt offen, aber das Buch bietet viele Anregungen, über diese und andere Fragen noch einmal nachzudenken. 4,5 Sterne.