Lautlose Jägerin in dunkler Nacht
06:11 Minuten

John Lewis-Stempel
Aus dem Englischen von Sofia Blind
Das geheime Leben der EuleDuMont, Köln 2022112 Seiten
20,00 Euro
Zweibeiniger Schaukelgang, große Augen und ein breiter Kopf: Der Naturschriftsteller John Lewis-Stempel widmet sich in seinem neuen Buch der Kulturgeschichte der Eulen – unseren instinktiven Doppelgängern.
Quer durch die Zeiten hatten Menschen zu Eulen ein ganz besonderes Verhältnis, erzählt der preisgekrönte Naturschriftsteller John Lewis-Stempel in seinem neuen Buch „Das geheime Leben der Eulen“. Auf wenig mehr als hundert Seiten zitiert er Eulen-Gedichte und Eulen-Mythen, erzählt aus der Biologie der scheuen Tiere und fügt eigene Beobachtungen hinzu.
Vogel mit Menschengesicht
Warum scheinen Eulen so besonders zu sein? Es liegt an der genetischen Prägung des Menschen, weiß der Autor: Mit ihrer aufrechten Haltung, dem zweibeinigen Schaukelgang, den großen Augen und dem breiten Kopf sehen Eulen uns ähnlich. „Das ist ein Instinkt“, betont der Autor. „Wir sind genetisch auf die Anteilnahme am Schicksal unserer Doppelgänger programmiert. Es ist dieses menschenähnliche Gesicht, auf das wir hereinfallen.“

Verblüffend menschliche Züge: Die Eule ist unsere Doppelgängerin in der Welt der Vögel.© Unsplash / Joshua J. Cotten
Nur drei Prozent aller Vögel sind nach Sonnenuntergang noch unterwegs. Dazu gehören die meisten der 200 Eulenarten. Und weil Menschen eher nachts sterben als am Tag, huschen Eulen signifikant häufiger durchs Bild, wenn gerade jemand gestorben ist. Aus Korrelation wurde Ursache – und die Eule zur weisen Seherin um letzte Dinge, um Leben und Tod.
Weisheit der Eulen-Biologie
Unterhaltsam fließt der Text dahin und von der Eule als Weisheitssymbol zur Weisheit der Eulen-Biologie ist es bei John Lewis-Stempel nur ein müheloser Schritt. Eulen verschlingen ihre Beutetiere in einem Riesenhappen, erzählt er begeistert. Was sie verdauen können, wandert in ihren Darm, während die unverdaulichen, scharfkantigen Knochen in ihrem Magen von einem Fellhaar-Polster umschlossen werden.
„In dieser Phase des Verdauungszyklus kann die Eule nicht fressen, weil das Gewölle ihren Magen blockiert“, so der Autor. Sobald die Eule wieder jagdbereit ist, schließt sie die Augen, streckt den Hals vor und würgt das Haar-Schleim-Knochen-Bällchen aus ihrem Schnabel. Furchtlose Ornithologen beugen sich darüber und ziehen Schlüsse über die Eulenarten und deren Speisezettel in einem Gebiet.
Strahlend weiße Schleiereule
In einem der schönsten Kapitel des Buches stellt John Lewis-Stempel alle einheimischen Arten vor: Die strahlend weiße Schleiereule, die mit ihrer Flügelspannweite von fast einem Meter ein riesiges Revier überfliegt, ohne das geringste Geräusch. Den noch etwas größeren Waldkauz, der mit seinem lohbraun geflammten Gefieder den Stämmen und Ästen seiner waldigen Heimat ähnelt.
Die Sumpfohreule, die Feuchtgebiete liebt und in einem einzigen Jahr 6000 Wühlmäuse verschlingen kann. Und natürlich den Uhu, mit einen vier Kilogramm Körpergewicht ein Riese unter den Eulen. Um sein stattliches Gewicht zu halten, frisst er alles, was aus Fleisch besteht, von Kleinstinsekten bis zu Rehkitzen.
Hochspannungsleitungen bringen den Tod
Seit mehreren Millionen Jahren leben Eulen in Europa. Die Zerstörung ihrer Lebensräume, aber auch Hochspannungsleitungen gefährden sie stark.
Schwierige ökologische Themen spart John Lewis-Stempel in seinem Buch zwar weitgehend aus – doch er wird wissen, warum er es mit einer Liste der wichtigsten europäischen Eulenschutzorganisationen beschließt.