John Muir: "Yosemite"
Mit einem Vorwort von Mordecai Ogada
Aus dem Englischen von Jens Lindenlaub und Max Henninger
Matthes & Seitz, Berlin 2021
200 Seiten, 25 Euro
Naturjubel und schmerzhafte Erinnerung
06:43 Minuten
300 Kilometer östlich von San Francisco liegt der drittälteste US-Nationalpark: Yosemite. Im 19. Jahrhundert durchstreifte John Muir diese Landschaft und schrieb darüber. Seither wird er als Wildnis-Prophet verehrt.
Das Buch "Yosemite" kam 1912 im Original heraus und ist nun bei Matthes & Seitz auf Deutsch neu erschienen. Darin setzt der Geologe und Schriftsteller John Muir dem Naturparadies an den westlichen Hängen der Sierra Nevada mit seinen seltenen Pflanzen- und Tierarten, den schroffen Granit-Formationen, beeindruckenden Wasserfällen, kristallklaren Flüssen und Riesenmammutbäumen ein poetisches Denkmal.
Halsbrecherische Expeditionen
Von 1868 an durchwanderte John Muir Yosemite zehn Jahre lang. Hier und da verdingte er sich als Schafhirte, doch meist streifte er allein durch die Natur, durchwatete Flüsse, kraxelte mit halsbrecherischem Mut auf unzugängliche Berge oder ließ sich von Schneelawinen mitreißen, untersuchte geologische Formationen, katalogisierte die üppige Pflanzenvielfalt, entwickelte naturhistorische Theorien zur Landschaftsentstehung, lag nachts unter den Sternen und fror – und sprang frühmorgens gleich wieder auf, um immer weiter zu wandern und zu erkunden. Wer sein Buch liest, ist hautnah dabei.
Doch bevor Leserinnen und Leser in John Muirs ausdrucksstarke Sprache eintauchen können, bevor sie sich faszinieren lassen können von der Blütenpracht, den Canyons und Steinadlern, gibt die Herausgeberin des Buches, Judith Schalansky, ein Vorwort des kenianischen Ökologen und Essayisten Mordecai Ogada zu lesen.
Vom Rassismus durchwirkte Projekte
Freundlich im Ton, schmerzhaft in der Sache dekodiert er die Nationalparks als von Rassismus durchwirktes Projekt. "Die Bewunderung der Siedler für die Natur", so schreibt der Kenianer, "nahm keinen Bezug auf die amerikanischen Ureinwohner, die mit der Natur lebten und deren Ressourcen nachhaltig nutzten." Schutzgebiete seien fast durchgängig durch Gewaltakte und Entrechtung geschaffen worden – und John Muir war als Advokat der Pogrome mit dabei.
Es folgen Kapitel um Kapitel Naturjubel, der sich vorwortbedingt kaum noch affirmativ lesen lässt, denn man lauert – bis Kapitel 13 zuschlägt. Unter der Überschrift "Die frühe Geschichte des Valleys" beschreibt John Muir eiskalt, wie es mit der Einrichtung des Nationalparks vor sich ging. "Einige wurden friedlich umgesiedelt. Bei anderen war es notwendig, ihre Dörfer und Vorräte zu verbrennen."
Ein Hauch Bewunderung für den alten Häuptling schwingt dabei zwar mit, plus Erwähnung einer Canyon-Namensgebung zu seinen Ehren. Das Kapitel endet aber wenig feinfühlig mit einem Hoch auf den Eisenbahnbau: "Im ersten Jahr beförderte die Bahn 4.000 Touristen, 1910 waren es bereits 15.000."
Die Legende von John Muir
Und so landet, wer "Yosemite" liest, in einem Wechselbad der Empfindungen aus Sehnsucht nach Wildnis, Romantisierung zerstörter Kulturen und knallharter Gegenwart.
"Wir in Afrika sind ständig Angriffen von 'Rettern' ausgesetzt, die die afrikanische Tierwelt lieben, aber die afrikanischen Menschen verachten", schreibt Mordecai Ogada. Idealerweise sei "die Legende von John Muir" nicht länger als Inspiration für die Zukunft zu lesen, "sondern als ein Prisma, durch das wir jenes irrige Konstrukt betrachten können, das wir als 'Naturschutz' bezeichnen."