Das Geheimnis der verlorenen Zeit
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
Rowohlt Verlag, Reinbek 2016
736 Seiten, 26,95 Euro
Astrophysik und zarte Metaphern
Der vierte Roman des US-Autors John Wray erzählt die Geschichte eines Clans durchgeknallter Hobbyphysiker, die Albert Einstein Konkurrenz machen wollen. Ein komplexes, anspielungsreiches Werk voll skurriler Einfälle, das nicht nur verdammt gut geschrieben ist, sondern wirklich ergreifend.
John Wray, Jahrgang 1971, ist halb New Yorker, halb Österreicher. Damit sind die beiden Spielfelder abgesteckt, auf denen er in seinem vierten Roman mehrere Generationen eines Clans von mehr oder weniger durchgeknallten Hobbyphysikern nicht nur das Wesen der Zeit klären lässt, sondern auch die Möglichkeit der Chrononavigation, der Zeitreise. Bei Wray wird munter chrononavigiert, keineswegs nur theoretisch. Die Zeit wird auch nicht bloß abstrakt ergründet. Mal rast sie, mal steht sie. Dabei wird das gesamte dramatis personae dieser prallen 700 Seiten von einem "Syndrom" getrieben, unbedingt herausfinden zu müssen, was Zeit ist, seit Ahn Ottokar Toula, K.-u.-k.-Gewürzgurkenfabrikant in Znaim, im Jahr 1903 von der Krümmung der Gurke auf die Krümmung von Raum und Zeit schloss.
Seine Notizen, so die bisweilen wahnhafte Überzeugung, mussten doch die Lösung enthalten – und zwar eine andere als die, die ein gewisser Albert Einstein (von der Familie nur "der Patentprüfer" geheißen) just publiziert hatte.
Noah, Physik und eine Prise Kafka
Vom K.-u.-k.-Gewürzgurkenfabrikanten spannt Wray den Jahrhundertbogen über einen sadistischen KZ-Kommandanten, einen Science-Fiction-Autor, dessen Bestseller einen schlimmen Sektengründer inspirieren, zu den wunderlichen Zwillingsschwestern Enzian und Gentian, die nach der Emigration und mehr oder weniger wilden Sechziger- und Siebzigerjahren in New York ihre Wohnung am Central Park kokonartig in eine Archiv-Eremitage verwandeln, die ihrem Großneffen Waldemar zur Falle wird. Der sitzt dort in einer Zeitblase fest. Und so schreibt er einer ehemaligen Geliebten einen 700 Seiten langen Brief: den Roman, den wir lesen.
"Wäre Noah von Gott beauftragt worden, eine Arche für Konsumgüter statt für Tiere zu bauen – und wäre Noah ein betrunkener Paranoiker gewesen –, hätte die Arche vermutlich wie diese Wohnung ausgesehen."
Ein Chaos, dem sich der Leser schnell mit Lust aussetzt
Das ist typisch Wray: Gleich zu Beginn kombiniert er unser Bild vom Messie mit der Theorie vom Schwarzen Loch, dem Auge des Taifuns und einer Prise Kafka ("Wie ein Kakerlak, in den ich mich immer mehr zu verwandeln scheine"). So geht er durchweg auffallend offenherzig mit Inspirationen und Konstruktionen um, was beglücken, aber auch einen gewissermaßen desillusionierenden Effekt haben kann. Denn das Chaos, dem man sich als Leser schnell mit Lust aussetzt, ist in Wahrheit streng durchgearbeitet. Man ahnt, irgendwann befürchtet man, dass das alles am Ende seinen Platz zugewiesen bekommt.
Stets das treffende Wort
Doch diese (reichlich komplexe) Konstruktion ist nicht der starke Teil des erzählerischen Experiments, die Geschichte einer Familie, eines Jahrhunderts und der Zeit als solcher in unsere Köpfe zu zaubern. Die Wucht dieses Romans ist das Feuerwerk aus Momenten, Gefühlen, Skurrilitäten, aus Komischem und Grausamem, aus Katastrophen, Glück und wilden Bildern, aus warmen Farben, Allgemeinmenschlichem, zarten Metaphern – schlicht, aber wirklich ergreifend: von verdammt vielen verdammt guten, weil im jeweiligen Moment jeweils genau richtigen Worten, für die Bernhard Robben durch die Bank auch noch genau die richtigen deutschen Worte gefunden hat.