Ein wütender Teenager, der verloren gehen will
Im Zentrum von John Wrays Roman "Gotteskind" steht Aden Sawyer, die zu den Taliban überläuft. Warum seine 18-jährige Hauptfigur ihr bisheriges Leben aufgibt und was sie nach Afghanistan zieht, erzählt der US-Autor in der "Lesart".
Joachim Scholl: Der Schriftsteller John Wray ist 1971 in Washington D.C. geboren, seine Mutter stammt aus Kärnten. Sie hat ihrem Sohn die deutsche Sprache beigebracht, er hat immer wieder in Österreich auch gelebt, und letztes Jahr wurde John Wrays Name bei uns schlagartig bekannt durch einen furiosen, preisgekrönten Auftritt beim Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb.
Drei Romane hat John Wray bislang veröffentlicht, jetzt gibt es einen neuen in deutscher Übersetzung: "Gotteskind", so der Titel. Willkommen im Deutschlandfunk Kultur in der "Lesart", John Wray!
John Wray: Vielen Dank!
Scholl: Ihr Gotteskind heißt Aden Grace Sawyer.
Wray: So ist es.
Scholl: Eine 18-jährige Kalifornierin, die nach Afghanistan reist, um sich dort in einer Koranschule auszubilden, zu studieren, den Islam zu studieren, dann aber zur Dschihadistin wird und tatsächlich in den Krieg zieht. Wie sind Sie auf diese junge Dame gestoßen, Mister Wray?
Wray: Ich bin tatsächlich auf sie gestoßen, könnte man fast sagen. Ich war als Journalist unterwegs in Afghanistan in 2015, und eigentlicher einer ganz anderen Geschichte auf der Spur, als ich mich plötzlich in einem Dorf ungefähr eine Stunde nördlich von Kabul befand und mich mit einem älteren Herrn unterhielt, der mir plötzlich von einem amerikanischen Mädchen erzählte. Ich habe ihn eigentlich ausgefragt wegen eines gewissen John Walker Lindh, der eine Zeit lang berühmt war und bekannt war als der American Taliban kurz nach dem 11. September.
Dieser alte Herr hat gesagt, ach ja, ich kann Ihnen alles Mögliche erzählen über den amerikanischen Jungen, aber auch, wenn Sie wollen, über das amerikanische Mädchen. Ich war einfach …
Scholl: Das heißt, diese Frau hat es tatsächlich gegeben, oder was hat er Ihnen erzählt, der Mann?
Wray: Ja, also ich war einen Moment lang ziemlich sprachlos, mein Dolmetscher auch, und dann fing dieser ältere Herr eine ziemlich komplizierte und verwickelte Geschichte zu erzählen, ziemlich vage, aber es hätte ein amerikanisches Mädchen geben sollen oder eine junge amerikanische Frau, die irgendetwas mit dem Heer des Taliban zu tun gehabt hat. Es war aber damals nicht klar und wurde nie klarer, genau wer das war, ob es dieses Mädchen überhaupt gab…
Scholl: Ob sie tatsächlich existiert hatte.
Wray: Ob das nur so ein Gerücht war, so eine Kriegslegende.
Scholl: Aber in Ihrem Kopf hat sie sich dann sozusagen formiert als Figur, als Person.
Wray: Genau, und ich habe dann fast zwei Wochen lang nach weiteren Spuren gesucht, ziemlich vergebens, und am Ende davon ist mir glücklicherweise eingefallen, dass ich eigentlich Romanautor bin.
Scholl: Und dann haben Sie Aden erfunden sozusagen.
Wray: Ja, ziemlich.
Scholl: Ich meine, ich habe andersrum überlegt, weil junge Menschen, die traumatisiert sind oder irgendwie neben der Spur, die spielen auch in Ihren früheren Romanen tragende Rollen.
Wray: Ja.
Scholl: Also dann denkt man, okay, jetzt überlegt er sich halt eine junge Amerikanerin, aber die Frage ist ja doch: Was ist denn mit Aden los, warum gibt sie denn ihr bisheriges lockeres säkulares, amerikanisches Leben auf, und was zieht sie denn nach Afghanistan?
Aden ist eine typische Teenagerin
Wray: Also für mich ist Aden aus einer Sicht eine ziemlich typische Teenagerin. Die Ehe ihrer Eltern ist kurz davor auseinandergegangen, sie ist sehr böse mit ihren Eltern, und überhaupt trägt sie viel Wut in sich, wie sehr viele 18-Jährige, wie ich auch, als ich 18-Jähriger war. Ihr Vater ist aber Universitätsprofessor für Islamstudien, und Aden ist mit der arabischen Sprache aufgewachsen und hat sich immer schon dafür interessiert.
Durch ihren Vater ist sie in eine Moschee gekommen. Der Vater hat sich nicht so besonders dafür interessiert, aber für Aden selber war das ein Schlüsselereignis, und sie fing dann an, die Religion zu studieren und ist dann sogar tatsächlich zum Islam konvertiert. Also Aden reist aus, aus den Vereinigten Staaten am Anfang des Buches, um den Koran in Pakistan auf einer Madrasa zu studieren.
Scholl: Eine Madrasa, eine Koranschule. Ich meine, Sie scheinen selbst ein profunder Kenner geworden zu sein. Es wird viel zitiert, über Suren reflektiert. Sie sind richtig koran-, bibelfest, oder?
Wray: Ja, inzwischen. Ja, mehr oder weniger. Ich kenne mich ungefähr so gut im Koran aus wie ich mich in der Bibel auskenne vielleicht, könnte man sagen.
Scholl: Dass Adens Nachname an einen amerikanischen Urromanhelden erinnert, nämlich an Tom Sawyer, Mark Twains kleinen Renegaten, das ist doch bestimmt kein Zufall, oder?
Wray: Nein, es ist kein Zufall, aber ob ich es mir so genau ausgedacht habe, weiß ich auch nicht. Mir kam der Name irgendwie schön vor. Ich wollte wirklich einen so quasi uramerikanischen Namen mir aussuchen, also einen Familiennamen, der weltweit als amerikanisch bekannt ist und nicht nur als englisch oder schottisch zum Beispiel.
Scholl: Aden macht auf jeden Fall mehr als Freunde reinlegen beim Zäune streichen. Ihr Interesse für den Koran und den Islam ist ja das eine, also die Entscheidung, in den Heiligen Krieg zu ziehen aber was völlig anderes. Aden reist zusammen mit ihren Freund Decker nach Afghanistan, der sich schnell entscheidet, ein heiliger Krieger zu werden. Aden denkt zunächst gar nicht dran, und dann wird sie es aber mit einer Konsequenz und Härte, die selbst ihre Ausbilder beeindruckt und ich muss sagen: als Leser einen richtig flach hinlegt. Mister Wray, da haben Sie sich wirklich was ausgedacht als Actionmeister. Was ist denn da mit ihr passiert?
Wray: Was ist mit Aden passiert?
Scholl: Ja.
Immer weiter abseits von dem geraden Pfad
Wray: Im Unterschied zu Decker, mit dem sie nach Pakistan reist, trifft Aden keine Entscheidungen irgendwie so, ohne viel drüber nachzudenken, und wenn sie einmal eine Entscheidung getroffen hat, ist es für sie ausschlaggebend, und es gibt kein Zurück davon. Am Anfang, wenn sie in Pakistan und dann in Afghanistan ankommt, hat sie wirklich vor allem nur vor, die Religion zu studieren, den Koran zu lernen, aber durch ihren Freund und durch andere Menschen, die sie dort kennenlernt, wird sie immer weiter radikalisiert, befindet sie sich immer weiter abseits von dem geraden Pfad, dem sie folgen wollte.
Scholl: Sie lassen Aden und ihren Freund im Frühjahr, Sommer 2001 nach Afghanistan reisen, also noch vor 9/11, den Anschlägen in New York. Davon erfährt Aden erst im Land selbst. Warum haben Sie das zeitlich so arrangiert?
Wray: Also das kann ich sehr einfach beantworten. Adens Geschichte ist zum Teil auf die Geschichte dieses John Walker Lindh basiert, obwohl sie sich sehr voneinander unterscheiden. Die Zeitspanne und auch geografisch gesehen, dieses Abenteuer zuerst in Pakistan, in Peschawar, anzukommen und dann nach einiger Zeit über die Grenze durch die Berge nach Afghanistan hinüberzuwandern und sich dem Heer der Taliban anzuschließen, genauso hat es der John Walker Lindh auch getan und genau zu dieser Zeit. Das fand ich auch sehr interessant, weil Lindh hat eigentlich keineswegs die Absicht gehabt, Krieg gegen Amerika zu führen. Das war überhaupt nicht seine Absicht.
Er hat sich das so vorgestellt, als ob er irgendwie vielleicht seiner eigenen Vergangenheit in den Vereinigten Staaten entkommen könnte, aber John Walker Lindh so wie meine Protagonistin haben das ungeheure Pech, sich plötzlich und unerwartet in einem Land zu befinden, das zu Feind Nummer eins für die USA wirklich von einem Tag zum anderen wurde.
Scholl: Und ein berühmter Mann, ein Saudi, dessen Name nicht genannt wird, spielt dann auch noch eine Rolle. Das ist natürlich Osama Bin Laden. Was einen beim Lesen von Anfang an verblüfft, John Wray: Aden ist ja eine intelligente, reflektierte Frau, und an dieser Stelle sollten wir noch mal nachtragen, sie muss sich auch als Frau tarnen. Also sie reist verkleidet als Mann nach Afghanistan, aber sie kommt natürlich in eine strikt paternalistische, arabische Machowelt und hat da anscheinend gar kein Problem mit. Das kommt ihr anfangs gar nicht in den Sinn. Später im Roman wird sie konfrontiert sogar mit der Steinigung einer Frau, einer vermeintlichen Ehebrecherin. Als Leser denkt man – sie ist natürlich dann schockiert –, aber sag mal Mädchen, was hast du denn gedacht, wohin du da kommst.
Wray: Ja. Na ja, dieses ganze Abenteuer, diese ganze Reise ist für mich, glaube ich, nur verständlich gewesen, selbstverständlich als Fehler, als Fehlentscheidung, aber ich glaube, John Walker Lindh hat auch nicht von vornherein auch nur die geringste Ahnung gehabt davon, wie sich das Leben in Afghanistan jenseits der Berge von Pakistan wirklich abspielte.
Er hat keine Ahnung haben können, glaube ich. Das waren ja Zeiten vor dem Internet, es war nicht so einfach, eine klare Vorstellung zu haben von Gebieten, die man nie betreten hat. Für Lindh sowie dann in meinem Roman auch für Aden, die Feststellung davon, wie es wirklich vor sich geht in diesem Regime, ist ein großer Schritt in Richtung Erwachsenwerden, aber eine ziemlich bittere Feststellung und eine beängstigende.
Scholl: Wir dürfen natürlich nicht zu viel verraten, was Aden so erlebt und vor allem, wie es ausgeht. Das ist sehr dramatisch. Ihre Tarnung als Mann, die ist auch nicht durchzuhalten. An einer Stelle heißt es aber, zum ersten Mal, seit sie von zu Hause fortgegangen war, wusste sie, sie war verloren. Sie ahnt selber, dass dieses Abenteuer nicht richtig gut ausgehen kann.
Sie will ihre Vergangenheit hinter sich lassen
Wray: Ja, und sie will auch verlorengehen am Anfang. Sie will ihre Vergangenheit hinter sich lassen, sie will sich neu erfinden in einem fremden Land, sie will sich dem Islam vollständig widmen und sich vollkommen neu erfinden, aber diese Art des Verlorengehens hat sie wohl nicht vorausgesehen.
Scholl: Trotzdem schaffen Sie es als Autor, dass man mit ihr bibbert und ihr die Daumen drückt. Am Ende schlagen amerikanische Raketen ein, Aden muss ihre neuen Killerfähigkeiten einsetzen, um zu überleben. Wenn Ihr Buch eine Fernsehserie wäre, John Wray, habe ich mir gedacht, könnte man sagen, am Ende, der Schluss ist so angelegt, dass eine zweite Staffel möglich wäre, wenn die Finanzierung gesichert ist.
Wray: Das gehört zum Geschäft.
Scholl: Werden wir Aden Grace Sawyer wiedersehen? Was meinen Sie?
Wray: Das ist aber eine gute Frage. Kann ich auch nicht so richtig sagen. Ich habe sie gern jedenfalls, und für mich war das ein verhältnismäßig glückliches Ende. Das heißt, dass sie durchaus weiter Abenteuer haben könnte.
Scholl: Apropos Romanfigur, John Wray, ist jetzt ein ganz anderes Thema, aber Sie hatten die Ehre, selbst mal als eine aufzutreten. Die Kollegin Verena Roßbacher – Sie lachen schon – hat in Ihrem jüngsten Roman "Ich war Diener im Hause Hobbs", prima Buch, einen Romancier namens John Wray eingespeist. Wie fühlt sich das denn an?
Wray: Äußerst sonderbar, aber ich finde es schön. Ich finde es schön. Verena ist eine nette, gut erzogene Person.
Scholl: Sie hat auch um Erlaubnis gebeten.
Wray: Sie hat mich um Erlaubnis gebeten vorher. Also sie hat das nicht einfach so aus blauem Himmel auf mich zukommen lassen. Also ich war schon gewissermaßen vorbereitet dafür, aber es ist ein sehr, sehr seltsames Gefühl, besonders als lebenslanger Leser plötzlich sich selbst in einem Roman zu sehen.
Wobei ich sagen muss, also inwiefern das ein Porträt von mir war und inwiefern ein paar Ereignisse aus meinem Lebenslauf Verena dann gedient haben, um ihren wirklich hervorragenden Roman zu schreiben, das bleibt vielleicht offen. Ich habe mich gleichzeitig erkannt und nicht erkannt in dem Roman, aber das war auch nicht der Zweck der Sache.
Scholl: Vielen Dank, John Wray, für dieses Gespräch!
Wray: Es hat mich sehr gefreut!
Scholl: Und "Gotteskind", der neue Roman von John Wray, der ist im Rowohlt-Verlag erschienen, übersetzt von Bernhard Robben, mit 352 Seiten zum Preis von 23 Euro.
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