Jom Kippur im Kantorenseminar
Ein jüdischer Kantor muss viel mehr können als singen: Er betreut die Gemeinde auch als Seelsorger, er darf Ehen schließen und Beerdigungen leiten. Am Kantorenseminar des liberalen Abraham-Geiger-Kollegs in Berlin werden derzeit neun junge Sänger ausgebildet. Doch schon jetzt singen die angehenden Kantoren zu den Hohen Feiertagen in verschiedenen Synagogen jüdischer Gemeinden in Deutschland und Europa.
Im obersten Stock des Abraham-Geiger-Kollegs in Berlin-Charlottenburg, direkt unter dem Dach, steht Sofia Falkovitch auf einer kleinen Bühne und singt das "Kol Nidre" - das bekannteste Gebet zum höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur. In dem kleinen Raum ist eine Übungssynagoge aufgebaut - mit der Bima, der Bühne für Rabbiner und Kantor aus Holz, einer kleinen Orgel und einem Tora-Schrein. Die Studenten des Kantorenseminars üben in diesem Raum für ihre Einsätze in Gottesdiensten. Heute bereiten sie sich in der Meisterklasse von Kantorin Roslyn Barak auf Jom Kippur vor.
Lange und geduldig am "Kol Nidre" zu arbeiten ist nichts Ungewöhnliches, sagt die erfahrene amerikanische Kantorin. Denn schließlich handelt es sich bei dem aramäischen Text um etwas, das nicht leicht zu erfassen ist - um die nachträgliche Auflösung von Verträgen, Schwüren und Versprechungen aus dem verflossenen jüdischen Jahr.
"Kol Nidre ist natürlich ein Hauptstück, eines der Kulminationsmomente von den Hohen Feiertagen. Es wird ja auch nicht umsonst der ganze Abendgottesdienst oft nach diesem Gebet benannt. Und natürlich hat man da die ganze Tradition, und die Erwartungen auf den Schultern zu tragen. Nicht nur die Erwartungen der Gemeinde, sondern auch die historischen Hintergründe, und die kulturellen."
Sofia Falkovitch ist ausgebildete klassische Sängerin, geboren wurde sie in Moskau. Woher kommt ihr Interesse für Chasanut, für jüdischen Gesang in der Synagoge?
"Das war nicht so, dass ich von meiner Kindheit an geträumt habe, Kantorin zu werden. Aber unter Anderem war das der Wunsch meiner Großmutter, die auch Mezzosopranistin ist. Und da ich davor vorwiegend als Sängerin gearbeitet habe, wollte meine Großmutter, dass ich für mein Volk sozusagen mehr singe."
Auch Roslyn Barak, die als Kind eine jüdisch-orthodoxe Schule in den USA besuchte, hat zunächst Karriere als klassische Sängerin gemacht. Unter anderem sang sie an der Oper in Israel und in Santa Fe. Dann bekam sie ein Kind, musste ihre Auftritte zurückschrauben, sang in einem Chor einer Reformsynagoge - und ließ sich schließlich zur Kantorin ausbilden. Seit 1987 amtiert sie in der liberalen Synagoge Emanu-El in San Francisco. Der Beruf hielt einige Überraschungen für sie bereit:
"Man denkt, zum Beruf eines Kantors gehört es vor allem, zu singen. Das tut man auch. Aber man tut so vieles mehr. Zumindest in den USA ist der Kantor ein gleichberechtigter Partner des Rabbiners. Ich tue alles, was der Rabbiner auch tut: Ich verheirate Paare, alleine oder zusammen mit dem Rabbiner, ich amtiere bei Beerdigungen, ich gebe Babys ihren Namen, ich gehe zu Beschneidungen, ich richte die "Freude der Tochter" aus, wann immer eine Familie das wünscht, und ich unterrichte auch die Bnei Mizwa. Ich habe Profi- und Amateurchöre, ich habe eine Menge Arbeit in der Gemeinde."
Auch Aviv Weinberg aus Israel ist ausgebildete Sängerin. Sie übt das "Unetane Tokef", das Gebet über das Schicksal des Menschen, das an Jom Kippur für das neue Jahr besiegelt wird.
"Das war lustig! Das ist so ein ernstes Material, und trotzdem, die Arbeit war so voll mit Lächeln und Humor, das war sehr schön."
"Als Kantoren ist es unsere Aufgabe, die Gemeinde vor Gott zu repräsentieren. Es geht nicht darum, dass wir schöne Stimmen haben, sondern dass wir verstehen, was wir machen, und dass wir bereit sind, die Gemeinde zu vertreten. Und das am Jom Kippur zu machen, und an Rosch Haschana, wenn man ständig betet, in das Buch des Lebens eingetragen zu werden und nicht in das Buch des Todes, ist es etwas extrem Besonderes,"
sagt der Israeli Amnon Seelig. Geboren ist er in München - und hat als Kind eher wenig gebetet. So wie seine Kommilitonin Aviv Weinberg:
"Ich komme aus einem säkularen Hintergrund, aber mein Studium hier, ich unterscheide nicht zwischen säkular und religiös. Für mich, was wichtig ist: Spirituell. Und das ist wirklich mein Weg schon in den letzten acht Jahren, ich suche wirklich immer einen spirituellen Weg, und ich suche das auch im Judentum."
Ein Kantor könne auch dann sein Amt ausüben, wenn er "Jüdischkeit" nicht mit der Muttermilch eingesogen habe, findet Roslyn Barak:
"Die einzige Herausforderung ist, dass Leute mit einem religiösen Hintergrund etwas mehr Wissen und Erfahrung mit Texten und Gebeten haben, und sie kennen das Gebetbuch sehr gut, sie kennen die Tora und sind wahrscheinlich den größten Teil ihres Lebens auf eine religiöse Schule gegangen. ( ... .) Leute, die aus einem säkularen Hintergrund kommen, müssen mehr lernen und aufholen. Aber jeder weiß doch, dass Rabbi Akiba 40 Jahre alt war, als er Rabbiner wurde. Also, es ist niemals zu spät. Und wenn man eine Seele und ein Gefühl dafür hat, dann hat es Gültigkeit."
Zwei Wochen hat Roslyn Barak die Studenten unterrichtet, einzeln und in Meisterklassen. Sie ist zufrieden und stolz:
"Ich blicke auf eine Karriere von 26 Jahren zurück, und nun fühle ich, dass es meine Verantwortung ist, viele Dinge weiterzugeben, die ich gelernt habe, nicht nur den Gesang, sondern es gibt so viel zu lernen, was es bedeutet, ein Kantor zu sein. Und für mich ist das wundervoll, hierherzukommen und die Pioniere zu sehen. Und das habe ich ihnen auch gesagt: Ihr seid etwas Besonderes, weil ihr die erste Gruppe junger Menschen in Europa seid, die als Kantoren ausgebildet werden - wo auch immer ihr dann auch landen mögt."
Ob sie in Zukunft als hauptberufliche Kantoren arbeiten werden, hängt nicht nur von ihnen allein ab. Amnon Seelig:
"Es gibt viel Bedarf und viel Interesse. Es ist eigentlich nur eine praktische Frage, wie viele Gemeinden sich einen Kantor oder eine Kantorin leisten können. Manche Gemeinden wollen entweder einen Rabbiner oder einen Kantor haben und können sich nichts anderes leisten, und manche entscheiden sich eher für einen Kantor, weil sie meinen, na gut, wenn wir schon für jemanden zahlen, wollen wir, dass er mindestens singen kann."
An Jom Kippur singen sie alle. Aviv Weinberg in der liberalen Gemeinde "Bet Schalom" in München, Amnon Seelig in der Reformgemeinde "Etz Chajim" in Warschau und Sofia Falkovitch in Paris. Roslyn Barak wird in San Francisco amtieren. In allen Synagogen der Welt beginnt am Dienstagabend der Jom-Kippur-Gottesdienst mit dem Kol Nidre.
Lange und geduldig am "Kol Nidre" zu arbeiten ist nichts Ungewöhnliches, sagt die erfahrene amerikanische Kantorin. Denn schließlich handelt es sich bei dem aramäischen Text um etwas, das nicht leicht zu erfassen ist - um die nachträgliche Auflösung von Verträgen, Schwüren und Versprechungen aus dem verflossenen jüdischen Jahr.
"Kol Nidre ist natürlich ein Hauptstück, eines der Kulminationsmomente von den Hohen Feiertagen. Es wird ja auch nicht umsonst der ganze Abendgottesdienst oft nach diesem Gebet benannt. Und natürlich hat man da die ganze Tradition, und die Erwartungen auf den Schultern zu tragen. Nicht nur die Erwartungen der Gemeinde, sondern auch die historischen Hintergründe, und die kulturellen."
Sofia Falkovitch ist ausgebildete klassische Sängerin, geboren wurde sie in Moskau. Woher kommt ihr Interesse für Chasanut, für jüdischen Gesang in der Synagoge?
"Das war nicht so, dass ich von meiner Kindheit an geträumt habe, Kantorin zu werden. Aber unter Anderem war das der Wunsch meiner Großmutter, die auch Mezzosopranistin ist. Und da ich davor vorwiegend als Sängerin gearbeitet habe, wollte meine Großmutter, dass ich für mein Volk sozusagen mehr singe."
Auch Roslyn Barak, die als Kind eine jüdisch-orthodoxe Schule in den USA besuchte, hat zunächst Karriere als klassische Sängerin gemacht. Unter anderem sang sie an der Oper in Israel und in Santa Fe. Dann bekam sie ein Kind, musste ihre Auftritte zurückschrauben, sang in einem Chor einer Reformsynagoge - und ließ sich schließlich zur Kantorin ausbilden. Seit 1987 amtiert sie in der liberalen Synagoge Emanu-El in San Francisco. Der Beruf hielt einige Überraschungen für sie bereit:
"Man denkt, zum Beruf eines Kantors gehört es vor allem, zu singen. Das tut man auch. Aber man tut so vieles mehr. Zumindest in den USA ist der Kantor ein gleichberechtigter Partner des Rabbiners. Ich tue alles, was der Rabbiner auch tut: Ich verheirate Paare, alleine oder zusammen mit dem Rabbiner, ich amtiere bei Beerdigungen, ich gebe Babys ihren Namen, ich gehe zu Beschneidungen, ich richte die "Freude der Tochter" aus, wann immer eine Familie das wünscht, und ich unterrichte auch die Bnei Mizwa. Ich habe Profi- und Amateurchöre, ich habe eine Menge Arbeit in der Gemeinde."
Auch Aviv Weinberg aus Israel ist ausgebildete Sängerin. Sie übt das "Unetane Tokef", das Gebet über das Schicksal des Menschen, das an Jom Kippur für das neue Jahr besiegelt wird.
"Das war lustig! Das ist so ein ernstes Material, und trotzdem, die Arbeit war so voll mit Lächeln und Humor, das war sehr schön."
"Als Kantoren ist es unsere Aufgabe, die Gemeinde vor Gott zu repräsentieren. Es geht nicht darum, dass wir schöne Stimmen haben, sondern dass wir verstehen, was wir machen, und dass wir bereit sind, die Gemeinde zu vertreten. Und das am Jom Kippur zu machen, und an Rosch Haschana, wenn man ständig betet, in das Buch des Lebens eingetragen zu werden und nicht in das Buch des Todes, ist es etwas extrem Besonderes,"
sagt der Israeli Amnon Seelig. Geboren ist er in München - und hat als Kind eher wenig gebetet. So wie seine Kommilitonin Aviv Weinberg:
"Ich komme aus einem säkularen Hintergrund, aber mein Studium hier, ich unterscheide nicht zwischen säkular und religiös. Für mich, was wichtig ist: Spirituell. Und das ist wirklich mein Weg schon in den letzten acht Jahren, ich suche wirklich immer einen spirituellen Weg, und ich suche das auch im Judentum."
Ein Kantor könne auch dann sein Amt ausüben, wenn er "Jüdischkeit" nicht mit der Muttermilch eingesogen habe, findet Roslyn Barak:
"Die einzige Herausforderung ist, dass Leute mit einem religiösen Hintergrund etwas mehr Wissen und Erfahrung mit Texten und Gebeten haben, und sie kennen das Gebetbuch sehr gut, sie kennen die Tora und sind wahrscheinlich den größten Teil ihres Lebens auf eine religiöse Schule gegangen. ( ... .) Leute, die aus einem säkularen Hintergrund kommen, müssen mehr lernen und aufholen. Aber jeder weiß doch, dass Rabbi Akiba 40 Jahre alt war, als er Rabbiner wurde. Also, es ist niemals zu spät. Und wenn man eine Seele und ein Gefühl dafür hat, dann hat es Gültigkeit."
Zwei Wochen hat Roslyn Barak die Studenten unterrichtet, einzeln und in Meisterklassen. Sie ist zufrieden und stolz:
"Ich blicke auf eine Karriere von 26 Jahren zurück, und nun fühle ich, dass es meine Verantwortung ist, viele Dinge weiterzugeben, die ich gelernt habe, nicht nur den Gesang, sondern es gibt so viel zu lernen, was es bedeutet, ein Kantor zu sein. Und für mich ist das wundervoll, hierherzukommen und die Pioniere zu sehen. Und das habe ich ihnen auch gesagt: Ihr seid etwas Besonderes, weil ihr die erste Gruppe junger Menschen in Europa seid, die als Kantoren ausgebildet werden - wo auch immer ihr dann auch landen mögt."
Ob sie in Zukunft als hauptberufliche Kantoren arbeiten werden, hängt nicht nur von ihnen allein ab. Amnon Seelig:
"Es gibt viel Bedarf und viel Interesse. Es ist eigentlich nur eine praktische Frage, wie viele Gemeinden sich einen Kantor oder eine Kantorin leisten können. Manche Gemeinden wollen entweder einen Rabbiner oder einen Kantor haben und können sich nichts anderes leisten, und manche entscheiden sich eher für einen Kantor, weil sie meinen, na gut, wenn wir schon für jemanden zahlen, wollen wir, dass er mindestens singen kann."
An Jom Kippur singen sie alle. Aviv Weinberg in der liberalen Gemeinde "Bet Schalom" in München, Amnon Seelig in der Reformgemeinde "Etz Chajim" in Warschau und Sofia Falkovitch in Paris. Roslyn Barak wird in San Francisco amtieren. In allen Synagogen der Welt beginnt am Dienstagabend der Jom-Kippur-Gottesdienst mit dem Kol Nidre.