Jon Fosse: "Kindheitsszenen"
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Mit Holzschnitten von Olav Christopher Jenssen
Verlag Josef Kleinheinrich, Münster 2019
182 Seiten, 40 Euro
Figuren wie Holzschnitte, die nicht holzschnittartig sind
06:40 Minuten
Jon Fosse ist eigentlich Dramatiker. Der Band "Kindheitsszenen" versammelt dichte und einprägsame Prosasplitter des Norwegers, die ohne eine Erzählung oder Erklärungen auskommen. Wie ein Kunstwerk mit Sammlerwert mutet die Aufmachung des Buches an.
Der 1959 geborene Jon Fosse ist vor allem mit seinen Theaterstücken berühmt geworden, er gilt mittlerweile als einer der wichtigsten Gegenwartsdramatiker überhaupt. Seine karge, vieles aussparende Sprache hat ihm den Ruf eines nordischen Beckett eingebracht, und tatsächlich erinnert vieles in seinen Texten an den irischen Urvater einer existenziellen Lakonie: Die norwegische Landschaft mit ihrem Gleichmaß und ihrer Weitläufigkeit, mit Schnee, Eis und der meist vorherrschenden Dunkelheit scheint sich in seinen Sätzen zu spiegeln.
Das ist auch in den "Kindheitsszenen" so, die in einer bibliophilen Aufmachung im darauf spezialisierten Verlag Kleinheinrich in Münster erschienen sind. Zusammen mit den Holzschnitten von Olav Christopher Jenssen, die die nordischen Assoziationen befördern, mutet das Buch wie ein Kunstwerk an, das auf einen Sammlerwert setzt und sich eher in den Kategorien des Kunsthandels als in denen der landläufigen Buchhandlungen ansiedelt.
Die insgesamt fünf Kapitel hat der preisgekrönte Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel aus dem norwegischen Sammelband mit kürzerer Prosa des Autors zusammengestellt.
Ausgeliefertsein und Einsamkeit
Die "Kindheitsszenen" Jon Fosses entwerfen sofort die Landschaft, die ihn geprägt hat. Geboren in der westnorwegischen Küstenstadt Haugesund, wuchs er in einem Dorf auf, das wie er "Fosse" heißt. Es liegt am Hardangerfjord, übersetzt heißt "Foss" "Wasserfall". Die eisige, dunkle Gletschergegend, in der nur ab und zu einige Bauernhöfe auftauchen, zieht sich durch die meist sehr kurzen, einprägsamen Prosasplitter.
Nie wird dabei so etwas wie eine Erzählung entfaltet, nie gibt es psychologische Erklärungen, die Figuren erscheinen wie Holzschnitte, ohne "holzschnittartig" zu sein. Es handelt sich um einzelne Schlaglichter, die auf den ersten Blick oft nebensächlich oder sogar banal anmuten, aber dann durchaus grell wirken können.
An Wörtern wie "Jugendfreizeitheim" kann man etwas spezifisch Norwegisches erkennen, doch es verströmt gleichzeitig einen Ruch von Ausgeliefertsein und Einsamkeit. Dazu gehören auch Offenbarungen wie ein "Frikadellensandwich", das dem Ich-Erzähler von einem sozialen Außenseiter und Alkoholiker bezahlt wird.
Bereits in der Eingangsszene des Buches tauchen "Frischfrikadellen" wie eine geheime Losung auf, von der man nur erahnen kann, auf was sie konkret verweist – aber es liegt unverkennbar etwas Schweres, Lastendes im Raum.
Blut wird zum existenziellen Sinnbild
Gitarren scheinen eine große Rolle zu spielen, als Instrumente zur Selbstfindung des Jugendlichen: Eine kleine Szene handelt davon, wie es dem Ich-Erzähler nicht gelingt, seine Gitarre zu stimmen, und auch die Mitspieler ihm dabei nicht helfen können.
Und besonders eindringlich ist ein Moment, in dem er in der Stube bei der Großmutter sitzt und in einem Radiosender eine ungewöhnliche, seltene Musik entdeckt, "mit langen, düsteren Gitarrensolos" – diese bleiben als uneingelöstes Sehnsuchtsmoment stehen.
Einmal rutscht der Junge auf dem Glatteis aus und schneidet sich an einer Flasche, die dabei kaputtgeht. Das Blut, das dabei fließt, scheint sofort zu einem existenziellen Sinnbild zu werden. Vermutlich liegt in dieser spezifischen Form von Zeitlosigkeit, die Jon Fosse mit seinen norwegischen Verdichtungen erzeugt, die Suggestion, die ihn so erfolgreich macht.