Jon Ronson: "In Shitgewittern"

Erinnern Sie sich noch an Justine Sacco?

Das Wort "Shitstorm" von einem Computerbildschirm abfotografiert.
Bloßstellungen würden zur reflexhaften Antwort auf ein Benehmen, das anderen nicht gefiele, weil das in der Anonymität des Netzes so einfach sei, vermutet Autor Jon Ronson. © picture alliance / dpa - Patrick Pleul
Von Vera Linß |
Wer interessiert sich für die Opfer von Shitstorms, wenn der Onlinetross weiter gezogen ist? Der Journalist Jon Ronson spürt diesen zerstörten Existenzen "In Shitgewittern" offen und neugierig nach - genauso wie jenen, die sie im Netz an den Pranger stellten.
Erinnern Sie sich an Justine Sacco? Im Dezember 2013 nahm ihr Leben eine dramatische Wendung. Leichtsinnig hatte die 30-jährige von London aus getwittert, sie sei auf dem Weg nach Afrika. Und weiter: "Hoffentlich bekomme ich kein AIDS. Ich mach nur Spaß. Ich bin weiß." In Kapstadt gelandet, kursierte ihr – vermeintlich rassistischer – Tweet bereits tausendfach im Internet. Erst kam ein Sturm der Entrüstung, mit ihm Beschimpfungen und Morddrohungen, dann verlor die PR-Frau ihren Job. Sacco, die nur einen Witz hatte machen wollen: am Boden zerstört.
Dieser digital ausgetragene, öffentliche Demütigungsprozess ist es, der den Erfolgsautor Jon Ronson interessiert. Dass Delinquenten vor aller Augen bloßgestellt werden, ist zwar nicht neu. Erstmals geschehe diese Art der Bestrafung aber nicht durch Gerichte, sondern durch "jene Sorte Mensch, die sonst vollkommen machtlos gewesen war". Das Internet lasse kleinste Fehltritte in einem Krieg eskalieren, den Ronson als "Demütigungswahn" bezeichnet. Wie aber lasse sich dieser erklären?

Ronson spürt Opfer von Shitstorms auf

Antworten holt sich der Journalist zuallererst von den Opfern der Shitstorms selbst. Ein Plan, der so simpel, wie genial ist. Denn wer interessiert sich schon für die zerstörten Existenzen, nachdem der Onlinetross weiter gezogen ist zum nächsten Tribunal? Ronson aber spürt sie auf, befragt Justine Sacco ebenso wie den Starautor Jonas Lehrer, der die Dummheit begangen hatte, erfundene "Zitate" von Bob Dylan in seine Texte einzubauen. Oder den Informatiker Hank, dessen harmlosen Witz eine Frau in den falschen Hals bekommen hat – was diese sogleich postete.
Für die meisten ist Jon Ronson der erste Journalist überhaupt, dem sie ihre Geschichte erzählen. Mit seiner berührend offenen, neugierigen Art schafft er es aber auch, dass einige der selbsternannten Online-Richter sich ihm anvertrauen. So entsteht ein komplexes, intimes Bild, das die sozialen Netzwerke im Internet konstant ausblenden: Wie sich die Angeprangerten quälen, wie sie die Dynamik des Internets unterschätzt haben und jetzt um ihre Würde kämpfen. Es "war furchtbar", erzählt Hank. Und für wie rechtschaffen sich die halten, die den Online-Pranger initiieren. Denen gehe es oft darum "Gutes zu tun".

Auch Google verdient an Shitstorms

Dass die gute Intention in einem "Lynchmob" endet, liegt an der Struktur des Internets, analysiert Ronson, der außerdem in Archiven war und einen Richter getroffen hat, um die neue Qualität dieser "modernen Hexenprozesse" zu verstehen. Anders als in der Offline-Welt etwa fehle eine Verhandlung, dem Beschuldigten stünden keine Rechte zu. Bloßstellungen würden zur reflexhaften Antwort auf ein Benehmen, das anderen nicht gefiele, weil das in der Anonymität des Netzes so einfach sei. Aber auch Google verdiene an Shitstorms. Die 1,2 Millionen Suchanfragen nach Justine Sacco im Dezember 2013 hätten geschätzte 450.000 Dollar Werbegeld eingebracht.
Auf einen Aktionsplan, was online anders laufen muss, verzichtet Ronson im Gegensatz zu vielen anderen Netzkritikern. Das ist in Ordnung. Die Geschichten, die er ausgegraben hat, sprechen für sich.

Jon Ronson: In Shitgewittern. Wie wir uns das Leben zur Hölle machen
Aus dem Englischen von Johann Christoph Maass
Tropen, Stuttgart 2016
330 Seiten, 14,95 Euro

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