Jonas Eika: "Nach der Sonne"
Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein
Hanser Berlin, Berlin 2020
160 Seiten, 20 Euro
Liebe, Geborgenheit, Selbstzerstörung
05:58 Minuten
Ein Sender in der Wüste, mexikanische Jungs, die Touristen dienen oder ein Obdachloser, der in eine bürgerliche Beziehung einbricht. Die Erzählungen von Jonas Eika zeigen eine Vielfalt von Realitäten aus ungewöhnlichen Perspektiven.
Ein Mann geht in die Wüste Nevadas, schneidet sich den Hals auf, setzt ein kleines Stück Metall in die Stimmbänder ein und versucht zu schreien, doch das will nicht recht gelingen. Dabei war genau das Antonios Plan. Das Stück Metall gehört zu einem rätselhaftenden Sender, den Antonio vor einiger Zeit gefunden, aufgebaut und sich mit ihm verbunden hat, woraufhin ihm ein Schrei entfahren ist, der ihn für einen Moment erlöste. Denn Antonio trauert, seit seine beiden Töchter kurz hintereinander an Krebs gestorben sind: "Es war, als hätte das Gefühl, vollkommen von allen anderen getrennt zu sein, das ihn seit dem Tod seiner Töchter begleitet, eine Stimme erhalten und wäre endlich zu etwas Eigenem geworden, einer atemlosen, metallischen Sehnsucht. Seither wollte er selbst zum Sender werden."
"Rachel, Nevada" heißt diese Erzählung von Jonas Eika und ist eine von fünf Geschichten in dem Debüt des 1991 geborenen dänischen Autors. Wie auch die anderen Erzählungen spielt sie an einem realen Ort. Rachel in Nevada ist eine kleine Mobilehome-Stadt in den USA, die eine Art Pilgerstätte von so gennannten Ufolog*innen ist – angeblich erforscht dort das amerikanische Militär Außerirdische.
Ufologin entwickelt eine Außerdirdischentheorie
Nach dem Tod der Töchter haben Antonios Frau Fay und er ein paar Jahre zuvor alles verkauft, sich ein Wohnmobil zugelegt und sich in Rachel niedergelassen. Um ihrer Trauer produktiv etwas entgegenzusetzen, wird Fay Ufologin, entwickelt eine Außerirdischentheorie, laut derer sie ihre verstorbenen Töchter in sich aufnehmen kann, während Antonio sich immer mehr in die Wüste zurückzieht. Der mysteriöse Sender fängt ihn auf und zieht auch andere Lebewesen und Organismen an: Tiere leben auf und um den Sender herum, ein Pilz umschließt ihn. Ein Ökosystem, zu dem Antonio dazugehören möchte.
In der zweigeteilten Erzählung "Bad Mexican Dogs" beleuchtet Eika die Lebensrealität mexikanischer Jungs, die im Cancuner Privatstrandclub die Körper westlicher Touristen eincremen, ihnen Getränke bringen und frische Luft zuwedeln und untereinander sexuelle und auch Liebesbeziehungen eingehen. Bei Eika können sie sich aber auch mal in Urfische verwandeln oder Tote zum Leben erwecken.
Eika verlässt Parameter vertrauter Welten
In der Erzählung "Ich, Rory und Aurora" findet die die obdachlose Casey in London kurzzeitig Schutz bei einem Ehepaar. Die drei fangen ein Verhältnis an und Casy verliebt sich in Aurora, die Ehefrau.
London, Cancun, Rachel. Realexistierende Orte. Und zunächst Schicksale und Alltagsgeschichten, wie man sie sich zumindest vorstellen kann. Und dann verlässt Eika die Parameter dieser scheinbar vertrauten Welten, spinnt neue mit ein, so natürlich und selbstverständlich, dass man auch bei der zweiten Lektüre immer noch nicht sicher sein kann, was genau da gerade passiert und vor allem: warum. Aber genau das macht Eikas Texte aus: Sie zwingen die Lesenden auszuhalten, dass nicht alles erklärt wird.
Ein Rhythmus, der die Figuren treiben lässt
Jonas Eika erzählt von menschlichen Bedürfnissen wie Liebe und Geborgenheit oder auch über die (Selbst-)Zerstörung des Menschlichen durch die (eigene) kapitalistische Ausbeutung.
Das macht seine Fiktionen trotz ihrer Surrealität zugänglich. Heteronormative Struktur werden dabei nicht als Normalität gesetzt, sondern gesellschaftliche Konventionen, wie etwa Geschlecht und Sexualität, werden in "Nach der Sonne" beständig unterwandert. Unaufgeregt und mit einem Rhythmus, der die Figuren treiben lässt, zeigt Eika die Vielfalt von Lebensrealitäten, deren Perspektiven literarisch selten zu hören sind.