Jonas Lüscher: "Kraft"
Roman. Verlag C.H. Beck, München 2017.
236 Seiten, 19, 95 Euro
Der unfähige Professor Kraft
In Jonas Lüschers Debüt-Roman "Kraft" führt Professor Richard Kraft eine unglückliche Ehe und ihn plagen Geldsorgen. Ein wissenschaftlicher Wettbewerb im Silicon Valley verheißt ein Preisgeld von einer Million Dollar und die Lösung seiner Probleme.
Wer vor die Wahl gestellt wird, ein Fuchs oder ein Igel zu sein, und zwar so wie der griechische Dichter Archilochos das Wesen dieser beiden Tiere einst definierte und wie der Ideengeschichtler Isaiah Berlin es weitergehend interpretierte, hat es nicht leicht: "Der Fuchs weiß viele Dinge, der Igel aber nur eine große Sache".
Oder, nach Berlin: Der Fuchs denkt und unterwirft sein Denken keinem System, der Igel aber unterstellt sein ganzes Denken einem einzigen ordnenden, universalen Prinzip. Und wer dann noch unter den Augen eines Falken wie Donald Rumsfeld an der Stanford Business School, nicht weit vom Herzen des Silicon Valleys, an einem Aufsatz im Geiste von Leibniz’ Theodizee-Essay sitzt, einem Aufsatz, der mit einer Million Euro dotiert ist, der Millenniumsoptimismus versprühen und die Frage beantworten soll: "Warum alles, was ist, gut ist und wir es trotzdem verbessern können" – dessen Welt kann schon einmal ziemlich aus den Fugen geraten.
Schon die zweite Ehe am Ende
Kraft heißt dieser bedauernswerte, gebeutelte, von Igeln, Füchsen und Falken umstellte Mann und Gelehrte auch noch, Richard Kraft, er ist der Held von Jonas Lüschers neuem, gleichnamigen Roman und tut sich schwer mit diesem Aufsatz und auch mit seinem Leben. Seine Ehe mit Heike, die zweite schon, ist am Ende, und um eine weitere Scheidung mit weiteren zwei Kindern zu finanzieren, braucht er das Geld, trotz seines guten Auskommens als Rhetorikprofessor in Tübingen in der Nachfolge von Walter Jens.
Also sitzt er im Lesesaal des Hoover Towers auf dem Campus der Stanford Universität, gegenüber dem Porträt von Donald Rumsfeld, dessen "Aufmerksamkeit verlangende Augen" ihn immer mal wieder aus seinen "leeren Gedanken" reißen. Er versucht sich zu orientieren in der digitalen, ihm höchst suspekt erscheinenden Silicon-Valley-Gegenwart, in der ihm leider viel zu häufig seine private und politische Vergangenheit in die Erinnerungsquere kommt, eine Berliner Prä-Wende-Vergangenheit.
Jonas Lüscher hat seinem Roman "Kraft" deshalb auch zwei Erzählebenen gegeben, pendelt ordentlich zwischen Imperfekt und Präsens und wacht über allem nach Art eines altväterlichen Erzählers aus dem 19. Jahrhundert im Pluralis Majestatis:
"Wir müssen den Ursprung des Problems viel weiter zurücksuchen".
Oder:
"Aber ist es nicht langsam an der Zeit, dass wir uns fragen,..."
Kraft ist aller Kraft beraubt
Lüscher hält sich seinen Helden auf diese Art schön auf Distanz, was bei der Lektüre eine Mischung aus Ironie und Düsternis verbreitet. Kraft ist aller Kraft beraubt – die Provokationen und Überzeugungen seiner Jugend, in der er Anhänger neoliberaler Wirtschaftsmodelle war, Anhänger der FDP eines Graf Lambsdorff oder der Reagonomics, verfangen nicht mehr, der digitale Fortschritt hat ihn überholt, den altmodischen europäischen Intellektuellen, der sich daran festhält, dass es "weder für das Verfassen der Odyssee noch von Eschenbachs Parzival oder Hölderlins Hyperion" einen Computer gebraucht habe.
Das Scheitern im Politischen, trotz seines beruflichen Erfolges, spiegelt sich im Privaten, in Krafts Unfähigkeit, tragbare Beziehungen zu führen, weder mit seiner ersten Frau, noch mit Johanna, einer zwischenzeitigen Liebe, noch mit Noch-Ehefrau Heike.
So steht dieser moderne Homo Faber im Auge des digitalen Sturms und eines dann auch noch imaginierten Erdbebens vor den Trümmern seiner Existenz, völlig "im Unklaren darüber, ob er seinen Erinnerungen überhaupt noch trauen kann".
Man muss auch dem gottähnlichen Erzähler von Lüscher nicht unbedingt über den Weg trauen, kann das aber getrost mit dieser Mischung aus Gelehrtensatire und Digitalkapitalismuskritik tun. Kurzum: mit dem Buch eines Autors, der nach seiner vielgelobten, die Finanzkrise gezielt ins Visier nehmenden Novelle "Frühling der Barbaren" einen klugen, wissenschaftsskeptischen, gegenwartsnahen Roman vorlegt, der in der jüngeren deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gerade seinesgleichen noch sucht.