Jonathan Coe: "Mr. Wilder und ich"
Aus dem Englischen von Catharine Hornung
Folio Verlag, Bozen/Wien 2021
276 Seiten, 22 Euro
Jonathan Coe: "Mr. Wilder und ich"
Billy Wilder am Set seines Klassikers "Das Appartement": Mit seinem Roman gelingt Jonathan Coe ein einprägsames Porträt des großen Filmemachers. © Imago / Everett Collection
Von Österreich nach Hollywood
05:35 Minuten
Billy Wilder floh vor den Nazis in die USA und schrieb Filmgeschichte. Jonathan Coe hat ihm jetzt einen Roman gewidmet. Darin begleitet eine junge Frau die Dreharbeiten zu Wilders letztem Film.
Damit hatte die junge britische Studentin Calista nicht gerechnet. Sie wird zusammen mit ihrer Freundin, mit der sie 1976 durch Amerika reist, zum Diner in ein Restaurant in Los Angeles eingeladen. Sie finden sich am Tisch von Billy Wilder wieder, der dort mit seiner Frau und seinem Produzenten zu Abend isst.
Calista hat keine Ahnung, wer Wilder ist, kennt keinen seiner Filme. Sie trinkt zu viel und wacht am nächsten Morgen auf einer Couch in der Villa des Regisseurs auf.
Erinnerung an den alten Billy
Ein geschickter Schachzug, um Billy Wilder vorzustellen. Denn Calistas Unwissenheit erlaubt es Jonathan Coe, im ersten Kapitel durchaus amüsant in dessen Werk einzuführen. Der Regisseur bereitet gerade die Verfilmung von "Fedora" vor.
Gut 40 Jahre später erinnert sich Calista, inzwischen erfolgreiche Filmmusikkomponistin, an die Entstehungsgeschichte dieses Films, der unter anderem von einem alten Regisseur handelt, "der einen Film zu machen versucht, der völlig aus der Zeit gefallen ist".
Das spielt auf das Alter des damals 70-jährigen Billy Wilder an. Der besteht geradezu besessen darauf, dass sich alle haargenau an das Drehbuch halten, während eine Generation junger Regisseure ihren Schauspielerinnen und Schauspielern viel Freiraum für spontane Improvisation lässt.
Freiheiten der Fiktion
Wilders Arbeitskonzept hat durchaus seine komödiantischen Momente, wie Calista bei den Dreharbeiten zu "Fedora" mitbekommt. Dass sie dabei ist, verdankt sie ihrer Zweisprachigkeit. Da ein Teil der Dreharbeiten auf einer griechischen Insel stattfindet, erinnert sich Wilders Produzent an die gebürtige Griechin und heuert sie als Dolmetscherin an.
In der Ichform erzählt sie, was alles passiert. Wilders Humor, seine ironischen Kommentare beeindrucken sie.
Auch wenn Jonathan Coe so gut wie alle Biografien Wilders und zahlreiche Interviews gelesen hat, so bietet ihm die Form des Romans die Freiheit, seine Fantasie spielen zu lassen. Er erfindet glaubwürdige Szenen erst in Griechenland, dann beim Schluss der Dreharbeiten in Paris und der Normandie. Die Zitate sind belegt.
Schuldgefühle eines Überlebenden
Coe zeigt Wilder aber auch als einen Mann, der sich schuldig fühlt, weil er, österreichischer Jude, rechtzeitig in die USA geflohen ist, während seine Mutter, sein Stiefvater und seine Großmutter von den Nazis ermordet wurden.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrt Wilder als US-Army-Offizier nach Europa zurück. Er soll eine Dokumentation über die Konzentrationslager zusammenstellen. Eine entsetzliche Arbeit, denn die Bilder aus den KZ übertreffen alles an Grausamkeit, was Wilder sich je hatte vorstellen können.
Jonathan Coe lässt Billy Wilder diese Geschichte, die auf Fakten beruht, bei einem Arbeitsessen selbst erzählen. Es zeigt den Regisseur als bissigen und sarkastischen Beobachter des Nachkriegsdeutschlands, in dem alle NS-Parteigänger ihre Unschuld beteuern. Man kann dieses Kapitel durchaus als politische Abrechnung Coes mit heutigen Leugnern des Holocaust verstehen.
Dem Schriftsteller ist ein einprägsames, sehr lebendiges Porträt eines der größten Regisseure der Filmgeschichte gelungen. Die Mischung aus biografischen Daten, Originalzitaten und frei erfundenen Szenen ist stimmig und überzeugt.