Jonathan Lear: Radikale Hoffnung. Ethik im Angesicht kultureller Zerstörung
Aus dem Amerikanischen von Jens Pier
Berlin, Suhrkamp Verlag, 2020
236 Seiten, 28 Euro
Was passiert nach dem Verlust?
06:27 Minuten
Was macht kultureller Wandel, was macht der Verlust von Lebensweisen und Lebensbedingungen mit Menschen? Wie lässt sich trotz des permanenten Verschwindens die Hoffnung bewahren? Der Philosoph Jonathan Lear beschäftigt sich einfühlsam mit diesen Fragen.
Was ist die Aufgabe einer Figur im Schachspiel? Angriffe auf den Gegner, Deckung der eigenen Partei. Der Bewegungsraum ist klar umrissen: auf den Feldern einer Farbe in bestimmte Richtungen, nach einem festgelegten Muster, innerhalb der Koordinaten des Schachbretts.
Was aber passiert, wenn man der Schachfigur das Schachbrett entzieht? Oder wenn man die Schachfigur auf ein "Mensch ärgere dich nicht"- Brett setzt? Was soll sie tun? Und: Könnte sie sich noch selbst beschreiben oder verstehen?
Wie erzählt man von einer untergangenen Welt?
Der US-amerikanische Philosoph Jonathan Lear benutzt in seinem - in den USA bereits 2006 erschienenen - Buch "Radikale Hoffnung" das Bild des Schachspiels, um die Situation der Crow Indianer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts anschaulich zu machen: Das Siedlungsgebiet des nomadischen Stammes wurde gegen Mitte des 19. Jahrhunderts immer enger. Angriffe rivalisierender Sioux und eingeschleppte Krankheiten dezimierten ihn, die fortschreitende Ausrottung von Biber und Büffel verunmöglichte die Jagd. Von Krankheit, Kälte und Hungertod bedroht, zogen die Crow zu Beginn der 1880er Jahre schließlich in ein Reservat.
All das, was traditionell das Selbstverständnis eines Crow ausgemacht hatte, war spätestens in diesem Moment verschwunden. Ehre, Ideale, die Stellung in der Gemeinschaft, definiert durch Tapferkeit und Mut im Kampf und bei der Jagd, ließen sich nicht mehr erwerben oder bewahren. Die Lebensweise der Crow war untergegangen, ihre Kultur zerstört, deren sinnstiftende Insignien wie beispielsweise der Coup-Stab bedeutungslos geworden.
Plenty Coups, der letzte Oberhäuptling der Crow, erzählte kurz vor seinem Tod 1932 einem weißen Trapper seine Lebensgeschichte. "Als die Büffelherden verschwanden, fielen die Herzen meiner Leute zu Boden und sie konnten sie nicht mehr aufheben. Danach ist nichts mehr geschehen."
Diese Aussage "Danach ist nichts mehr geschehen" - obwohl der charismatische Plenty Coups nach dem Verschwinden der Büffel noch mehr als ein halbes Jahrhundert zu leben hatte - war für Jonathan Lear die Initialzündung, herauszufinden was es bedeutet, wenn eine Zivilisation untergeht. Und ob es in einer gänzlich veränderten Welt noch Begriffe gibt, um von ihr zu erzählen. Vor allem aber geht es Lear auch darum, wie es möglich ist, sich eine Zukunft vorzustellen, wenn bislang geltende Werte und Gewohnheiten nichts mehr bedeuten.
Analogien zur Gegenwart
Mit diesen Fragen weist Jonathan Lear direkt in unsere Gegenwart. Während er auf gut 250 Seiten über den Stamm der Crow schreibt, entstehen im Kopf des Lesers Analogien – der "Zusammenbruch des Ostblocks", der Untergang der DDR, das Ende des Bergbaus oder der Heimatverlust von Flüchtlingen erscheinen in ihrer Problematik plötzlich in neuer Klarheit nachvollziehbar.
Das ist die große Qualität dieses Buches: Es stellt gut lesbar anhand eines plastischen Beispiels philosophische Fragen nach der Auswirkung kultureller Zerstörung, nach der Möglichkeit von Aufbewahrung und angemessener Pflege kultureller Artefakte und Traditionen, und dem Entstehen einer radikalen Hoffnung – einem "Hoffen, das auch im Angesicht einer ontologischen Verletzlichkeit weiterbesteht". Dieses Hoffen ist für Lear ein Akt des Mutes - der Fähigkeit, sich dem Untergang der eigenen Kultur zu stellen und darüber hinaus sich auf eine unbekannte Zukunft einzulassen. Dieses Buch führt vor Augen, was uns blühen könnte.