Jordan Scott / Sydney Smith: "Ich bin wie der Fluss"
© Aladin Verlag
Die Poesie des Stotterns
06:01 Minuten
Jordan Scott, Sydney Smith
Übersetzt von Bernadette Ott
Ich bin wie der FlussAladin, Stuttgart 202144 Seiten
18,00 Euro
Ein Junge schämt sich, weil er stottert, bis sein Vater ihm den Fluss zeigt: Der sprudelt genauso wie seine Sprache. Die künstlerische Gemeinschaftsarbeit "Ich bin wie der Fluss" ist ein eindrückliches Kinderbuch über das Leben.
Es gibt Bilderbücher, deren Geschichte so berührend ist und deren Bilder so gelungen sind, dass man sie immer wieder anschauen und gar nicht aus der Hand legen möchte. Ein so eindringliches Bilderbuch ist „Ich bin wie der Fluss“, die kongeniale Gemeinschaftsarbeit zweier kanadischer Künstler.
Ein Junge stottert. Alles, was er sagen möchte, kommt gar nicht oder nur entstellt aus seinem Mund. Laute, Wörter und Sätze krallen sich fest zwischen Zunge und Rachen, darum bleibt er oft „stumm wie ein Stein“. In der Schule versteckt er sich ganz hinten, und wenn er aufgerufen wird, ist ihm die Angst ins Gesicht geschrieben und sein Mund streikt. Darum wird er angegafft und ausgelacht.
Auch der Fluss stottert
Eines Tages fährt der Vater mit ihm zum Fluss und fragt: „Siehst du das Wasser? Wie es sich bewegt? Das ist es, wie du sprichst. Das bist du.“ Und der Junge begreift, dass dieses sprudelnde, wirbelnde, vorwärtsdrängende und dann wieder aufgestaute Wasser ist wie er selbst. Wie seine Sprache, sein Stottern, auch sein Leben. Diese Einsicht heilt zwar nicht den Sprachfehler, macht ihm aber Mut, in der Schule vor allen Kindern von seinem Lieblingsort zu erzählen, vom Fluss.
So authentisch kann wohl nur jemand vom Stottern erzählen, der sich selbst damit intensiv auseinandersetzen musste. Jordan Scott hat seine eigene Geschichte erzählt, wie er im Nachwort schreibt. Obwohl er heute noch stottert, ist er durch das Kindheitserlebnis am Fluss mit diesem Makel versöhnt.
Sprache wirbelt und staut sich
Genau wie er hat der Junge in seinem Buch intuitiv begriffen, dass das Stottern nicht wegtherapiert werden kann und soll. Es ist ein Teil von ihm, schrecklich schön, sein ganz persönlicher Rede-Fluss.
Ein besonderer Kunstgriff ist nun, diesen Jungen seine Geschichte selbst erzählen zu lassen. Nicht stotternd, sondern poetisch, in klangvollen knappen Sätzen voller zarter Metaphern und stiller Bilder. Er drückt mit einfachen Andeutungen auf intensive Weise tiefes Gefühl aus, seine Angst, seine Qual, seine Scham, und diese Sätze sind so gesetzt, dass sie sich automatisch in rhythmisierte Gedichtzeilen verwandeln. Seine innere, seelische Sprache ist klar und makellos, nur die äußere wirbelt und staut sich und zischt.
Aquarelle erweitern den Text
Sydney Smith’ atmosphärisch faszinierende Aquarelle spiegeln und erweitern den Text in kleinen und großen Kunstwerken. In ganz schmalen Querformaten entdecken wir konkrete Details aus dem Umfeld des Kindes und fast abstrakte Lichtspiele auf den gischtenden Wassermassen. In doppelseitigen Ansichten und sogar einem ausklappbaren Panorama blicken wir in Räume und Gesichter – oft auch in Spiegel und Fensterscheiben – oder auf den mächtigen Fluss. So ausdrucksstark, fast expressionistisch der Junge selbst porträtiert ist, so impressionistisch-flimmernd umschließen ihn die schimmernden Stromschnellen.
Schöner und eindringlicher als Jordan Scott und Sydney Smith kann man nicht erzählen, nicht vom Sprechen, vom Stottern, vom Fluss, vom Begreifen – vom Leben! Und ein Sonderlob geht an den Verlag für dieses optisch und haptisch tolle Bilderbuch.