Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:
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Lesen lernen für postfaktische Zeiten
38:38 Minuten
Fakt und Fiktion, Schein oder Sein: In den labyrinthischen Erzählungen von Jorge Luis Borges gibt es keine sichere Erkenntnis. Der Romanist Gerhard Poppenberg versteht ihn gerade in Zeiten von Fake News als Vordenker einer neuen Aufklärung.
Regale, die sich unter der Last der Bücher biegen, Raum für Raum bis hoch unter die Decke: In seiner Erzählung "Die Bibliothek von Babel" entwirft der argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges (1899–1986) einen utopischen Ort unerschöpflichen Wissens und führt zugleich seine Leserinnen und Leser in die Irre.
Denn Borges' fiktive Bibliothek versammle nicht nur alle großen Errungenschaften menschlicher Kultur und Gelehrsamkeit, erläutert der Romanist und Literaturwissenschaftler Gerhard Poppenberg. Sie enthalte schlichtweg sämtliche denkbaren Kombinationen, die sich mit den 26 Buchstaben des Alphabets zwischen Buchdeckeln herstellen ließen.
Philosophie und Poesie in einem Meer von Nonsens
"Innerhalb dieser unendlichen Menge von Büchern ist 90 Prozent Blödsinn", sagt Poppenberg, "weil es Zufallskombinationen der 26 Zeichen sind". Aber die Pointe der Geschichte liege in dem Gedankenspiel, dass man die Menge der Kombinationen nur groß genug veranschlagen müsse, damit darin "irgendwann auch die 'Kritik der reinen Vernunft' oder Goethes 'Faust'" auftauchten.
Die Frage sei nur, wer nach welchen Kriterien darüber entscheide, was als sinnvoller Test gelte und was nicht: "Es könnte auch eine scheinbar zufällige Kombination von Buchstaben ein dadaistisches Gedicht sein. Dann wird es plötzlich wieder auf eine bestimmte Weise ein Sinn."
Borges' Geschichten steckten voller gelehrter Anspielungen und falscher Fährten, sagt Poppenberg. Philosophie spiele eine große Rolle darin, aber wer versuche, Werke, aus denen bei Borges zitiert werde, später in einer Bibliothek zu finden, werde nicht selten feststellen, dass die erwähnten Bücher gar nicht existierten, dass es sich also um eine frei erfundene Literaturangabe handle.
Hinter dem Rücken der europäischen Tradition
Das sei der Punkt, den Borges uns zu denken aufgebe, so Poppenberg: "Wenn ich feststelle, dieser Garant einer Überlieferung ist selber falsch, dann fange ich an, darüber nachzudenken: Was ist eigentlich Überlieferung?" Für Borges sei diese Frage auch Teil eines postkolonialen Denkens gewesen. Rund 100 Jahre nachdem viele Länder Lateinamerikas sowie Mexiko ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, sei es darum gegangen, "hinter dem Rücken der europäischen Tradition" eine eigene kulturelle Identität zu entwickeln, erklärt Poppenberg.
War Borges, der am europäischen Geistesleben durchaus interessiert teilnahm und zum Beispiel Werke des Philosophen Arthur Schopenhauer auf Deutsch las, selbst ein Philosoph? Gerhard Poppenberg tut sich mit dieser Einsortierung schwer: "Wenn er sich mit philosophischen Themen beschäftigt, dann tut er das aus der Perspektive der Literatur und in der Form der Literatur."
Deshalb dürfe man philosophische Positionen, die in Borges' Erzählungen häufig erwähnt würden, "nicht zum Nennwert nehmen". Es handle sich um Figurenrede, verschiedene Positionen würden dialogisch zueinander in Beziehung gesetzt. "Am Ende ist der Leser derjenige, der entscheiden muss: Wo verorte ich mich mit meiner Meinung?"
Säulenheiliger der Postmoderne
Nichtsdestotrotz habe Borges in den 1960er-Jahren inspirierend auf Philosophen einer jüngeren Generation gewirkt, vor allem in Frankreich sei er bald als eine Art "Säulenheiliger der Postmoderne" gehandelt worden. Michel Foucault zitiert zu Beginn seiner Studie "Die Ordnung der Dinge" aus einer von Borges erwähnten "chinesischen Enzyklopädie", die Tiere gegenüber der uns vertrauten biologischen Systematik anhand von scheinbar absurden Kategorien unterscheidet – darunter: "Tiere, die dem Kaiser gehören", "die den Wasserkrug zerbrochen haben" oder "die von Weitem wie Fliegen aussehen".
Borges' vielschichtig konstruierte Erzählungen führten vor Augen, wie Weltbilder entstehen, sagt Poppenberg: "Ein Weltbild ist niemals eindeutig, sondern es entsteht aus dem Zusammenspiel unendlich vieler Einflüsse. Jeder ist in diesem Zusammenspiel, in diesem Feld von verschiedenen Meinungen, an einem bestimmten Ort und nimmt dieses Feld aus einer bestimmten Perspektive wahr."
Das fintenreiche Spiel mit Fakten und Fiktionen, Sein und Schein, Wirklichkeit und Traum, das Borges' Literatur kennzeichnet, mag in der Rückschau wie eine Vorwegnahme der Wissens- und Mediengesellschaft von heute erscheinen – und ihrer Anfälligkeit für Ideologien, Tribalismus und Verschwörungsglauben.
Prophet des Postfaktischen oder ein Aufklärer neuen Typs?
War der Dichter und Undercover-Philosoph Jorge Luis Borges also ein Prophet unseres postfaktischen Zeitalters? Gerhard Poppenberg versteht den Dichter aus Buenos Aires – und mit ihm seine besonders intensiven Leser Michel Foucault, Jacques Derrida und Gilles Deleuze – eher als Denker einer neuen Aufklärung. Auf falsche Behauptungen habe Borges nicht reagiert, indem er ihnen Fakten entgegenhielt, von deren Richtigkeit er überzeugt war, sondern indem er auf hintergründige Weise gezeigt habe, wie unser Glaube an Fakten überhaupt zustande kommt.
Wenn Borges uns heute ein Angebot zu machen habe, um unsere eigene Zeit besser zu verstehen, "dann wäre das wohl das Angebot: Lerne lesen", sagt Poppenberg:
"Im Zeitalter der umfänglichen Spezialwissenschaften und der gigantischen Enzyklopädien, in denen unser Wissen aufbewahrt ist, ist das Wissen nicht mehr die entscheidende Instanz, um den aufgeklärten Bürger zu produzieren, sondern der Umgang mit dem Wissen ist das Entscheidende. Das heißt, der Umgang mit der Art und Weise, wie dieses Wissen dargestellt wird. Das scheint mir der nächste Schritt in der Aufklärung zu sein."
(fka)