József Debreczeni: "Kaltes Krematorium"

Wiederentdeckter Auschwitz-Bericht

Buchcover zu "Kaltes Krematorium" von József Debreczeni
© S. Fischer

József Debreczeni

Übersetzt von Timea Tankó

Kaltes Krematorium. Bericht aus dem Land namens AuschwitzS. Fischer, Frankfurt am Main 2024

224 Seiten

24,00 Euro

Von Melanie Longerich |
Das Buch „Kaltes Krematorium“ des ungarischen Journalisten József Debreczeni war 70 Jahre lang vergessen. Zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz wird es weltweit neu aufgelegt. Es ist ein Zeugnis von großer Wichtigkeit.
József Debreczeni beginnt seinen Bericht aus dem „Land namens Auschwitz“ an einem Bahndamm, irgendwo in Osteuropa.

„Der lange Zug bestand aus niedrigen Güterwagen der Deutschen Reichsbahn. Als er bremste, raunten die benommenen, apathischen Menschen einander zu: ‚Wir halten an‘. […] Quietschend öffneten sich die Türen und ein deutscher Feldjäger in grasgrüner Uniform herrschte uns an: ‚Austeigen! Zur Seite! Los, los.‘“

Männer. Alte und junge. Schulkinder, Jugendliche. Sie alle sprangen aus dem Zug und rannten zum nahen Waldrand.
„Sie spreizten die Beine, hockten sich hin, gleichmütig wie Tiere. […] Ich glaube, […] an einem Waldrand voller blühender Bäume vollzog sich eine erstaunliche Metamorphose. Hier wurden die Menschen der plombierten Höllenzüge zu Tieren. So wie alle anderen, die Hunderttausenden, die der Wahnsinn aus 15 Ländern in die Todesfabriken und Gaskammern spie.“

Reportage mit eindrücklichen Bildern

Frühling 1944. Im Lager Bačka Topola in Serbien waren den Häftlingen zuvor ihre Habseligkeiten abgenommen und sie in Waggons gepfercht worden. Unter ihnen József Debreczeni. Der ungarische Journalist und Schriftsteller lebte damals schon – wegen der ungarischen Rassegesetze – in Serbien und war, wie Carolin Emcke im Nachwort der deutschen Ausgabe schreibt, „als professioneller Journalist in den Wendekreis der Gewalt von Auschwitz“ geworfen worden. 
Ein gestandener Intellektueller, der sich in Geschichte und Politik bestens auskannte. Sein Bericht liest sich deshalb mehr wie eine Reportage, in der er eigene Erfahrungen aber auch die seiner Mithäftlinge geschickt mit den aktuellen Entwicklungen des letzten Kriegsjahres verwebt. Immer wieder findet er eindrückliche Bilder, wie etwa bei der Selektion, die die Häftlinge bei der Ankunft in Auschwitz durchlaufen mussten:
„Der Mann mit dem Papier sieht jeden von uns an und deutet nach rechts oder links. […] ‘Bis zum Lager sind es zehn Kilometer bergaufwärts. Ihr‘, sagt er und deutet auf die Menschen in der linken Reihe, ‚die Älteren und Schwächeren, fahrt mit dem Lastwagen, die anderen gehen zu Fuß. Wer von denen auf der rechten Seite sich nicht stark genug fühlt für den Marsch, kann zur anderen Seite wechseln.‘ […] Auch ich mache eine unwillkürliche Bewegung in die Richtung, doch erblicke in dem Moment einen der Leichenkarren. […] Der Häftling, der ihn zieht, sieht uns nicht an, sagt nur mit gedämpfter Stimme: ‚Hierbleiben! Nur zu Fuß! Nur zu Fuß.‘“

Ein Land namens Auschwitz

Später erklärt ihm ein Mithäftling das System:  
„Siehst du diese Schornsteine? Das ist Birkenau. Die Krematorienstadt. Und der Rauch, das sind sie bereits, die links standen. […] Es ist ein Großbetrieb. […] Es läuft nach einem genauen Plan, der mit teutonischer Präzision durchgeführt wird.“
Doch für Debreczeni ist der Tod durch Arbeit geplant, wie ihm der Mithäftling erklärt:
„Auschwitz selbst ist voll, die Neuen bleiben nicht hier. Aber das ist egal. In den Außenlagern ist es überall gleich. […] Das hier ist ein ganzes Land. […] Auschwitz selbst ist nur das Zentrum. Die Hauptstadt.“

Zunehmende Entmenschlichung

Debreczeni wird zum namenlosen Arbeitssklaven Nummer 33031, der in verschiedenen Außenlagern des nahen Konzentrationslagers Groß-Rosen im schlesischen Eulengebirge eingesetzt wird, zum Tunnelbau beim Projekt Riese. Dort soll – neben der Wolfsschanze - ein weiteres Führerhauptquartier entstehen, mit gewaltigen Bunker- und Tunnelanlagen. Doch trotz gigantischem Material- und Menschenverschleiß wird das Projekt nie vollendet werden.
Besonders eindrucksvoll macht Debreczenis Bericht die dichte Beschreibung der zunehmenden Entmenschlichung in der weitgehend von Häftlingen organisierten Lagerhierarchie aus einfachen Häftlingen, Kapos, Schreibern, Baracken- und Lagerältesten:

„Die Nazis erschufen in ihren Todeslagern mit methodischem Erfindungsreichtum eine komplizierte Hierarchie der Parias. Die Deutschen selbst blieben innerhalb des Stacheldrahts meist unsichtbar. Aufgaben wie die Verteilung der Nahrung, das Aufrechterhalten der Disziplin, das unmittelbare Beaufsichtigen der Arbeiten, das Ausüben des direkten Terrors, kurz, die Exekutivmacht übertrugen sie einigen Treibern, die sie unter den Deportierten beliebig ernannten. Dieses System war in psychologischer Hinsicht zweifellos mehr als durchdacht. […]Die Treiber erhielten – neben besserer Suppe, besserer Kleidung und Gelegenheiten zum Stehlen – als Trinkgeld das wirkungsstärkste Opium: Macht.“

Gekonnte und schonungslose Darstellung

Völlig entkräftet und mehr tot als lebendig wird Debreczeni schließlich ins seuchengeplagte Sterbelager von Dörnhau gebracht, ins „kalte Krematorium“, wie es von den Häftlingen genannt wurde - und auf das auch der Titel des Buches verweist. Während in den Stationen davor die Häftlinge noch Hoffnung hegten, dass die nahende Rote Armee sie bald befreien werde, ist hier davon nichts mehr übrig.
„Wer an der Reihe ist, verlässt in Dörnhau die Welt meist nachts. Der Nacht gehören das kämpfende Wimmern, der Abschiedsschrei, das schmerzvoll mit Daheim verbindende Delirium. […] In einem einzigen Block sterben in einer Nacht zweihundert Menschen.“
Debreczeni überlebt, auch das Chaos der Befreiung durch die Rote Armee. Dass sein eindrücklicher Bericht nach Veröffentlichung 1950 in Ungarn wenig beachtet wurde, ist nur durch die politischen Rahmenbedingungen zu erklären, auf die sein Neffe Alexander Bruner im zweiten Nachwort verweist. Denn auch im ungarischen Stalinismus war der Antisemitismus Alltag. Dass er heute so große Aufmerksamkeit erfährt, ist spät – aber wichtig: Denn Debreczeni zeigt gekonnt schonungslos, wie perfide und menschenverachtend das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager funktionierte.
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