"Wir sind Augenzeugen des Zerfalls in Europa"
"Ungeheuerlich" findet Josef Haslinger das ablehnende Verhalten vieler EU-Staaten gegenüber Flüchtlingen. Der Entwurf eines gemeinsam handelnden Europas sei der Traum einer "Schönwetterperiode" gewesen, so der österreichische Schriftsteller.
Der Präsident des PEN-Zentrums Deutschland, Josef Haslinger, hat die mangelnde europäische Solidarität in der Flüchtlingskrise scharf kritisiert. Europa gehöre weitestgehend der Vergangenheit an, sagte Haslinger am Donnerstag im Deutschlandradio Kultur: "Wir sind Augenzeugen des Zerfalls in Europa." Dieses Europa sei ein Traum gewesen - der Traum einer "Schönwetterperiode", so der österreichische Schriftsteller: "In dem Augenblick, wo es ernst wird, sind auch alle Verträge, die geschlossen wurden und alle diese humanitären Proklamationen und all das, auf das Europa so stolz war (...) - all das ist Vergangenheit und gilt nicht mehr in dem Augenblick, wo es angewandt werden soll."
Die Deutschen als "die Bösen"
Schwere Vorwürfe richtete Haslinger insbesondere an die Länder Südosteuropas, aus deren Sicht die Deutschen "die Bösen" seien. Dort verstehe man den Aufruf von Bundeskanzlerin Angela Merkel, sich an die Menschenrechte und die Genfer Flüchtlingskonvention zu halten, als eine Einladung, "als hätte Merkel diesen Flüchtlingsstrom erst verursacht - das ist ungeheuerlich". Doch auch westliche EU-Länder griff Haslinger an: "Dass sich hier einige potentere Staaten wie Frankreich und Großbritannien völlig aus der Solidargemeinschaft Europa herausnehmen, ist eigentlich auch eine Ungeheuerlichkeit."
Gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik verhindert
Immer noch werde so getan, als wäre Europa "etwas von außen", so Haslinger weiter: "Diejenigen, die jetzt rufen, dass Europa schuld ist an der Misere und Europa soll die Misere lösen, waren auch diejenigen, die eigentlich die Misere verursacht haben, indem sie eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik ständig im Europäischen Rat verhindert haben." Zur Rolle Deutschlands sagte der Schriftsteller: "Wenn Deutschland derart im Stich gelassen wird, wie es im Moment der Fall ist, und wenn es tatsächlich zu keiner gemeinsamen Lösung kommt, dann wird Deutschland tatsächlich in eine enorme Krise hineingetrieben werden." Er habe den Verdacht, dass sich einige Länder dann "ins Fäustchen" lachen würden.
Seine Heimat Österreich sieht Haslinger in einer Zwischenrolle. Einerseits habe sich das Land zu einem "modernisierten Schlepperstaat" entwickelt. Andererseits sei die Zahl der aufgenommenen Asylbewerber - gemessen an der Bevölkerung - "relativ hoch".
Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Das Europa, von dem jahrzehntelang alle geträumt haben, schien in einem Punkt ja in den letzten Jahren erreicht, ein Europa ohne Grenzen nämlich. Zumindest in seinem überwiegenden Teil, im Schengen-Raum nämlich. Aber auch dort wird jetzt über Grenzzäune diskutiert in mindestens zwei Ländern. Zäune, die Schengen zwar zulassen würde, aber theoretisch nur für zwei Monate, was bei einem Zaun ja nicht so besonders sinnvoll ist. Insofern werden wir gleich mit dem österreichischen Schriftsteller und Präsidenten des deutschen PEN-Verbandes Josef Haslinger darüber reden, ob dieser reale Plan von Zäunen vielleicht auch das Ende Europas bedeuten könnte.
((Bericht))
Andreas Meyer-Feist berichtete über Zäune, geplante und auch schon reale. Wir wollen über das, was sie bedeuten, ob sie nun gebaut werden oder nicht und ob man sie nun einfach nur Grenzsicherung nennt oder wirklich Zaun, darüber wollen wir jetzt reden mit dem österreichischen Schriftsteller und Präsidenten der deutschen Sektion des Schriftstellerverbands PEN Josef Haslinger. Schönen guten Morgen, Herr Haslinger!
Josef Haslinger: Guten Morgen!
Kassel: Eine befestigte Grenze zwischen Österreich und Slowenien. Wir sind ja beide alt genug, um uns zu erinnern: Die gab es schon mal, als Slowenien noch Teil Jugoslawiens war. Hätten Sie sich je vorstellen können in den letzten 25 Jahren, dass über einen Wiederaufbau so einer Grenze diskutiert wird?
Haslinger: Nein, es war unvorstellbar, das ist ja eigentlich das Traurige, dass wir vor 25 Jahren viel weiter waren, ganz woanders waren. Ich habe mir neulich durchgelesen die Verträge der sogenannten Charta von Paris, die wurden im Jahr 1990 gemacht, also vor der deutschen Wiedervereinigung. Und da ist von einem völlig anderen Europa die Rede, da ist davon die Rede, einer Solidarität, einer Zusammenarbeit, einer Demokratie, einer Überwindung des Kalten Krieges, einer Überwindung aller alten Feindschaften, sozusagen eines Eintritts in ein neues Zeitalter, steht dort. Und jetzt sind wir sozusagen auf dem Weg zurück.
Kassel: Nun war ja der Traum von einem vereinigten Europa immer eben auch der Traum von einem Europa ohne Grenzen, und der schien durch das Schengen-Abkommen schon weitestgehend erreicht. Wenn es jetzt auch ohne Zäune ja überall wieder Grenzkontrollen gibt, auch wenn das juristisch möglich ist trotz des Abkommens, ist damit auch der Traum von Europa ausgeträumt?
Haslinger: Wir sind Augenzeugen des Zerfalls von Europa, das muss man glaube ich so sagen. Europa ist ... Weitestgehend gehört Europa der Vergangenheit an und es ist weitestgehend ein Traum gewesen, es war der Traum einer Schönwetterperiode. Und in dem Augenblick, wo es ernst wird, sind auch alle diese Verträge, die geschlossen wurden, und alle diese humanitären Proklamationen und all das, auf das Europa so stolz war, dass es ein besonders hohes Maß an Menschenrechtsgesetzen hat und sich jeder Staat dazu verpflichtet, all das ist Vergangenheit und gilt nicht mehr in dem Augenblick, wo es angewandt werden soll. Man hat ja jahrzehntelang, muss man jetzt ja schon sagen, an der Festung Europas gebaut, und letztlich war ja der Sinn der, dass man versuchte, die Menschen, für die diese Gesetze eigentlich gelten sollten, für die sie gemacht wurden, aus dem Wirkungsraum dieser Gesetze fernzuhalten. Und das ist gescheitert. Dieses alte Konstrukt wurde einfach von den Menschen überrannt und jede Idee, dass man neue Zäune bauen könnte und die würden nicht überrannt werden, ist völlig illusorisch.
Nur eine Schönwetterperiode?
Kassel: War der Gedanke, dass die Europäische Union mehr ist als eine Wirtschaftsgemeinschaft, einfach nur eine Selbstlüge?
Haslinger: Es war, stellt sich heraus, eine Art von, ja ... Man hat ja früher unterschieden zwischen Basis und Überbau und die Basis hat funktioniert, der freie Handel, der freie Verkehr der Waren. Mit dem freien Verkehr der Menschen hat man sich eine Zeit schwerer getan und hat sich überhaupt schwer getan, wenn es um die Menschen von außerhalb der Außengrenzen ging. Und alles andere scheint irgendwie so ein Überbau gewesen zu sein zur Erbauung der Herzen, dass wir die besseren Menschen sind, gedacht war, aber eigentlich keine oder kaum eine reale Grundlage hatte. In der Schönwetterperiode, als es sozusagen ... Das Problem ist ja, dass man wirklich jahrzehntelang versucht hat, alle legalen Fluchtwege nach Europa zuzumachen. Und das ist auch gelungen. Und schon deswegen gab es diesen großen Rückstau. Aber man hat sich ja auch nicht sonderlich darum gekümmert, dass in den Krisenregionen, von wo die Menschen kommen würden, dass man dort besondere Hilfestellung gibt. Sondern im Grunde haben die nationalen Egoismen fortgelebt und sie sind nie abgestorben, sondern sie leben sozusagen in alter Lebendigkeit wieder auf. Und das ist der traurige Zustand, den wir jetzt haben.
Kassel: Wo Sie über nationale Egoismen sprechen, Herr Haslinger: Es wird ja auch Schuld verteilt im Moment und oberflächlich betrachtet sieht es so aus, als ob die Deutschen, die Schweden, vielleicht noch ein kleines bisschen auch die Österreicher die Guten sind, und viele mittel- und osteuropäische Staaten sind die Bösen. Ist es so einfach?
Haslinger: Na ja, das kommt darauf an, von wo aus man schaut. Also, wenn Sie von Südosteuropa her schauen, dann sind die Deutschen die Bösen. Denn das ist ja eigentlich unglaublich, dieser Aufruf der Kanzlerin Merkel, die Menschenrechte und die gegebene Gesetzgebung, nämlich auch die Genfer Flüchtlingskonvention einzuhalten, das heißt also auch Kriegsflüchtlingen vorübergehend Schutz zu bieten. Diese Lösung und dieser Aufruf wird verstanden von den anderen Staaten, als wäre es eine Einladung gewesen, als hätte Merkel diesen Flüchtlingsstrom erst verursacht. Und das ist eigentlich eine ungeheuerliche ... Man sieht eigentlich, wie wenig Gesprächsbasis in Wirklichkeit auch vorhanden ist, und dass sich hier einige potentere Staaten wie Frankreich und Großbritannien da völlig aus der Solidargemeinschaft Europa herausnehmen, ist eigentlich auch eine Ungeheuerlichkeit.
Kassel: Was kann denn jetzt Brüssel noch tun, die EU-Kommission, das EU-Parlament? Haben die überhaupt noch irgendwelche Möglichkeiten?
Haslinger: Im Moment sieht es so aus, als hätten sie keine. Denn das Problem ist ja, selbst die betroffenen Staaten, diejenigen, die an der Balkan-Flüchtlingsroute liegen – und dazu gehört natürlich Österreich und die Endstation Deutschland und die Staaten davor, Serbien, Slowenien, Kroatien, Mazedonien, Griechenland –, selbst die sind nicht in der Lage, wenn Sie sich zusammensetzen, einen gemeinsamen Plan zu entwickeln. Also ... Hilfe von außen kommt sicher nicht. Und immer noch wird so getan, als wäre Europa etwas von außerhalb. Diejenigen, die jetzt rufen, dass Europa schuld ist an der Misere, und Europa soll die Misere lösen, waren auch diejenigen, die eigentlich die Misere verursacht haben, indem sie eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik ständig im Europäischen Rat verhindert haben.
"Deutschland wird im Stich gelassen"
Kassel: Wenn Europa tatsächlich zerbrechen sollte jetzt, wie Sie es ja durchaus schon gesagt haben, werden wir dann am Ende da stehen, zum Beispiel in Deutschland sagen können: Okay, die EU ist zerbrochen, aber immerhin hat ein Land viele Flüchtlinge aufgenommen? Oder wird am Ende beides nicht gehen?
Haslinger: Also, irgendwie, wenn Deutschland derartig im Stich gelassen wird, wie es im Moment der Fall ist, und wenn es tatsächlich zu keiner gemeinsamen Lösung kommt, dann wird Deutschland tatsächlich in eine enorme Krise hineingetrieben werden. Und ich habe, muss ich ehrlich sagen, ein wenig den Verdacht, dass es da ein paar Länder gibt, die sich ins Fäustchen reiben.
Kassel: Und wo steht Österreich? Dazwischen?
Haslinger: Österreich ist hier wirklich in einer Zwischenlage. Ich bin nicht zufrieden mit dem Verhalten der Österreicher, weil sie sich wirklich zu einem organisierten Schlepperstaat entwickelt haben. Man muss ihnen zugutehalten, dass etwa acht Prozent der durch Österreich reisenden Flüchtlinge, um Asyl ansuchen in Österreich, und sie kriegen auch ein ordentliches Asylverfahren. Also, die Zahl, gemessen an der Bevölkerung, die Zahl der Aufgenommenen in Österreich ist relativ hoch, es läuft etwa auf 80.000 hinaus, das würde dann etwa 800.000 in Deutschland entsprechen. Aber die Art, wie die anderen ... wie man versucht, die Menschen möglichst schnell zur deutschen Grenze zu bringen und eigentlich nicht immer eine gründliche Versorgung garantiert, das ist eigentlich nicht in Ordnung.
Kassel: ... sagt Josef Haslinger, österreichischer Schriftsteller und Präsident des deutschen PEN-Verbands. Herr Haslinger, vielen Dank für das Gespräch!
Haslinger: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.