"Ich halte die Deutschen für ziemlich anarchisch"
Mit 14 Jahren entdeckte Publizist Josef Joffe Manns "Der Untertan". Von einem Untertanentum, wie dort ironisch beschrieben, seien die Deutschen inzwischen weit entfernt. Politischer Protest gehöre inzwischen zur Normalität.
Nach oben buckeln, nach unten, so lautet das Lebensmotto von Diederich Heßling. Er ist der perfekte Untertan und Hauptfigur von Heinrichs Mann gleichnamigen Buch. Das erschien vor 100 Jahren und ist eine bittere Kritik an der deutschen Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs.
Doch wie obrigkeitshörig sind die Deutschen heute, 100 Jahre nach Erscheinen des Buchs? Josef Joffe, Herausgeber der Zeit, findet, es hat sich viel getan:
"Früher hat der Staat einen gefragt: Können Sie sich ausweisen? Heute fragt er: Was kann ich für Sie tun? Früher war der Postbote eine Autoritätsfigur, heute kommt er mit Jeans und Pullover. Dieser Umgang miteinander ist soviel entspannter geworden. Wir sind viel schneller beim Du."
Schlangestehen als Metapher für Demokratie
Das Schönste, sagt Joffe, sei, dass die Deutschen gelernt hätten sich in die Schlange einzureihen anstatt immer nach vorne zu drängen.
"Das Schlangenanstehen ist eine Metapher, die für vieles steht. Leute, die in einer Schlange anstehen, haben ein Grundvertrauen gegenüber den anderen, dass die sich nicht vordrängen werden. Der zweite Punkt: Schlangen organisieren sich von selbst. Die brauchen keinen Untertanen oder Obertanen, die den Leuten sagen: Hier müsst ihr euch jetzt anstellen. Dahinter steckt mehr liberale Demokratie als man sich vorstellen kann."
Politischer Protest sei normal geworden
So wirklich nach Rebellentum klingt das aber nicht. Für Autoritätshörig hält Joffe, die Deutschen aber gar nicht:
"Ich halte die Deutschen für ziemlich anarchistisch. Sie parken zum Beispiel alle auf dem Bürgersteig. Das ist Anarchie! Und sie gehen auch schnell auf die Straße und protestieren. Protest und politischer Aktivismus gehören zur Tagesnormalität. Der deutsche Mensch lässt sich doch heute nicht mehr von den Bütteln der Staatsmacht einschüchtern."
(mw)