"Eine jüdische Gemeinde ist kein Kulturverein"
An diesem Wochenende will sich Josef Schuster als Nachfolger von Dieter Graumann zum Präsidenten des Zentralrats der Juden wählen lassen. Ein Gespräch über die Herausforderungen im neuen Amt, das Prinzip der Einheitsgemeinde und Antisemitismus in Deutschland.
Miron Tenenberg: Der Präsident des Zentralrates der Juden wird am kommenden Sonntag neu gewählt. Dieter Graumann, der dieses Amt seit vier Jahren inne hat, lässt sich nicht erneut aufstellen. Im Studio ist der designierte Nachfolger Josef Schuster, niedergelassener Arzt in Würzburg und Präsident der israelitischen Kultusgemeinden in Bayern. Sie, Herr Schuster, sind momentan der Vizepräsident des Zentralrates und Nachfolger von Dieter Graumann. Am Sonntag werden Sie zum Vorsitzenden gewählt. Worin werden sich Ihre Ämter unterscheiden?
Josef Schuster: Ich denke, da gibt es einen gewaltigen Unterschied, der Präsident vertritt erst einmal auch für die Öffentlichkeit deutlich sichtbarer den Zentralrat in seiner Person. Es ist einfach so, dass bei aktuellen politischen Fragen der Präsident für den Zentralrat spricht. Ich glaube, es ist auch ganz wichtig, dass man mit einer Zunge spricht. Insoweit hat der Vizepräsident, oder die beiden Vizepräsidenten, es gibt ja deren zwei, eher die Aufgabe diesen Bereich, den man intern miteinander bespricht, diesen Bereich abzudecken und sich dann intern auch um diesen Bereich zu kümmern. Ich denke, Dieter Graumann und ich haben die letzten vier Jahre sehr vertrauensvoll und eng zusammengearbeitet. Eine Arbeit, die mir gerade in der bisherigen Position als Vizepräsident Erfüllung und viel Freude gebracht hat. Gerade durch dieses kollegiale, inzwischen auch freundschaftliche Verhältnis.
Tenenberg: Welche neuen Herausforderungen warten ab Montag auf Sie?
Schuster: Es sind die Herausforderungen einerseits einer pluraler werdenden jüdischen Gemeinschaft auch aus religiöser Sicht. Es ist auf der anderen Seite aber auch die Herausforderung den jüdischen Gemeinden gegenüber, die nach der Phase der Integration, der Akutintegration, natürlich jetzt auch eine stabile Basis haben, aber denen man auch helfen soll und muss in der Weiterentwicklung, um dauerhaft die Existenz jüdischer Gemeinschaften in Deutschland zu sichern.
Tenenberg: Damit hören Sie sich aber schon sehr nach Herrn Graumann persönlich an.
Schuster: Das war im Prinzip natürlich ähnlich sein Motto, aber da sind die Herausforderungen nicht anders geworden, sie werden – was die Pluralität des Judentums angeht – eher noch größer werden, das haben wir in den letzten Jahren gesehen; es geht darum, auch jüdische Menschen – oder auch die Basis der Gemeinde zu stärken und den Punkt immer wieder in Gemeinden auch deutlich zu machen, dass der Mittelpunkt einer jüdischen Gemeinde eine Synagoge ist, und darum herum kann es sehr viel geben. Aber auch noch einmal sehr deutlich klar zu machen, eine jüdische Gemeinde ist kein Kulturverein, sondern ein Kultusgemeinde.
Tenenberg: Sie sprechen als orthodoxer Jude von einer Gemeinde. Ist das Prinzip Einheitsgemeinde denn wirklich nicht zukunftsweisend?
Schuster: Also ich halte die Einheitsgemeinde aktueller für aktueller denn je. Einen Punkt möchte ich ein bisschen korrigieren. Mit dem Begriff orthodoxer Jude, ich glaube, den kann man so nicht stehen lassen. Für mich wäre ein orthodoxer Jude ein Mensch, der wirklich dauernd ein Käppchen trägt, vielleicht sogar Schläfenlocken hat, das würde ich gar nicht negativ bewerten wollen, aber ich würde mich als traditionell bezeichnen wollen, als Vorsitzender einer Gemeinde, die traditionell orthodox ist. Das heißt, die Gemeinde wird wirklich nach allen Regeln der Halacha geführt, außen herum bedeutet das aber nicht, dass auch nur die Mehrheit der Mitglieder alle deshalb streng religiös sind. Insoweit würde ich mich auch als traditionell und nicht als orthodox bezeichnen.
Tenenberg: Bleibt noch die Frage nach der Einheitsgemeinde.
Schuster: Ich denke, dass es wenig Sinn macht, in mittelgroßen und kleinen jüdischen Gemeinden mehrere Richtungen zu haben, die dann konkurrieren und mittelfristig gesehen alle keine Überlebenschancen hätten. Insoweit muss man sich in mittelgroßen und kleineren jüdischen Gemeinden in eine Richtung am Mainstream orientieren. Aber ich halte es auch in der politischen Außenwirkung der jüdischen Gemeinden für wichtig, dass auch in den großen Gemeinden, hier unter dem Dach der Einheitsgemeinde – da können ja ruhig verschiedene, da sollen auch verschiedene Synagogen oder verschiedene religiöse Ausprägungen, verschiedene religiöse Richtungen – ihre Heimat finden. Für mich der Prototyp und das Ideale: die Situation in der jüdischen Gemeinde in Frankfurt, wo in der Freiherr-von-Stein-Straße in der Westend-Synagoge unter ein und dem selben Dach ein traditioneller Gottesdienst und eine Etage tiefer ein liberaler Gottesdienst mit einer Rabbinerin stattfindet. Und allen Unkenrufen zum Trotz: Das Dach der Westend-Synagoge hält bis zum heutigen Tag.
Tenenberg: Und doch zerbröckelt das Prinzip der Einheitsgemeinde immer mehr, wie zum Beispiel in Berlin oder Köln, in denen es mehrere jüdische Gemeinden nebeneinander gibt.
Schuster: Die Situation mehrerer jüdischer Gemeinden an ein und demselben Ort halte ich persönlich für problematisch. Es ist alles andere als das, was ich mir wünsche, sei es in Berlin, sei es auch in anderen Orten. Sie haben gerade Köln erwähnt, es gibt auch andere Orte – ich denke an München, wo es eine Israelitische Kultusgemeinde München gibt und auf der anderen Seite eine liberale Gemeinde. Mein Wunsch wäre – und das ist immer meine Hoffnung –, dass es doch gelingt, diese verschiedenen Strömungen des Judentums unter einem Dach einer jüdischen Gemeinde zusammenzufassen.
Tenenberg: Glauben Sie, dass das realistisch ist?
Schuster: Unterstützen kann man das, glaube ich, in Gesprächen, die Vertrauen schaffen – auch der Zentralrat wurde ja sehr lange Zeit als eine orthodoxe Struktur dargestellt und hat es ja auch geschafft, die liberalen jüdischen Gemeinden - auch liberale Landesverbände - unter dem Dach des Zentralrates zu finden und zu binden. Was jetzt auf einer Bundesebene möglich ist, ist eigentlich nur schwer vorstellbar, dass das jetzt nicht auch im Lokalen, im Regionalen Bereich möglich ist. Vielleicht gibt es hier auch die Möglichkeit durch eine Moderation – nicht kurzfristig , nicht vom 30. November zum 1. Dezember – aber vielleicht mittelfristig Änderungen im positiven Sinne zu schaffen.
Tenenberg: Und dennoch wird dem Zentralrat vorgeworfen, die eigentlichen Gemeinden aus dem Auge verloren zu haben.
Schuster: Also ich glaube, dass die Gemeindearbeit ganz und gar nicht aus den Augen verloren wurde. Der Zentralrat hat ja mit dem Kulturprogramm etwas geschaffen, um gerade auch den kleineren Gemeinden, die finanziell nicht die Möglichkeit haben größere, namhaftere Künstler für Auftritte vor Ort zu holen, um ihnen hier die Möglichkeit zu geben auch namhafte Künstler ein, zwei Mal im Jahr für Auftritte zu bekommen.
Der Zentralrat wurde durch Dieter Graumann auch personell umgebaut und worum es jetzt geht und was man jetzt einfach hier noch nicht weiter verbessern kann, sondern weiterführen und weiterentwickeln kann, ist die Rolle des Zentralrates als Dienstleister für die Gemeinden, um die Gemeindearbeit auch aktiv zu unterstützen. Wobei und das ist der andere Punkt und das ist, ich möchte nicht sagen heilig, aber das ist ein ganz wichtiges Gut, die Autonomie der Gemeinden entsprechende Beachtung finden muss – jede Gemeinde ist autonom und daran gilt es auch nicht zu rütteln.
Tenenberg: Dennoch bleibt die Kritik, dass zum Beispiel der Gemeindetag zu pompös und kostspielig war.
Schuster: Sie werden es mit keiner Veranstaltung allen recht machen können. Auf der anderen Seite habe ich über den Gemeindetag letztes Jahr in Berlin nur positive Stimmen gehört. Es sollte ein Wohlfühlwochenende für Gemeindemitglieder sein – ich glaube, das ist gelungen. Ob man mit Veranstaltungen besser in ein Drei-Sterne-Hotel gehen sollte, ich glaube, das ist eine Frage des Stils. Ich glaube, es kommt letztendlich auf den Inhalt an und wenn wir diesen Gemeindetag betrachten, dann hat er auch inhaltlich in den Diskussionen, in den Workshops, in den Referenten klar einen Marker gesetzt, ein Zeichen gesetzt und ist bei vielen Menschen, die daran teilgenommen haben, auch heute noch, nach einem Jahr in einer sehr guten und positiven Erinnerung.
Sicherlich wird es wieder einen Gemeindetag geben, ob in der gleichen Form oder in einer anderen Form, da gibt es im Moment eine ganze Reihe an Übelregungen, es geht auch darum, welches Angebot man machen kann, um insbesondere – und das ist eine Gruppe an die man immer relativ schwierig herankommt, aber die mir ganz wichtig ist – die Gruppe der jungen Erwachsenen, der Menschen, die nicht mehr jugendlich sind, die über 30 sind, auf der anderen Seite voll im Berufsleben stehen, welche Möglichkeit es gibt, 30- bis 50-Jährige noch mehr an die jüdischen Gemeinden und jüdische Einrichtungen zu binden. Das ist ein Punkt, der mir ganz besonders am Herzen liegt, ohne dass ich Ihnen heute die Patentlösung sagen kann, zumal das eine Frage ist, die nicht nur die jüdischen Gemeinden betrifft, sondern in ähnlicher Form auch in nicht-jüdischen Gemeinden nicht so einfach zu lösen ist.
Tenenberg: Wie wollen Sie das unter einen Hut bekommen? Sie sind Internist, Landesverbandsvorsitzender und bald eben auch Präsident des Zentralrates.
Schuster: Jetzt könnte ich es mir einfach machen und sagen, dass die Bauphase und die Errichtung des jüdischen Gemeindezentrums in Würzburg seit einigen Jahren abgeschlossen ist und ich jetzt fast einen Leerlauf im Leben habe – so ist es natürlich nicht. Es sind ja alles keine One-Man-Shows, dass meine Vertreter – hier im Vorstand, hier die Vizepräsidentin auf Landesverbandsebene – mir doch auf dieser Ebene mehr Arbeit abnehmen, auf der anderen Seite, ich habe es gerade eben gesagt, Dr. Graumann ist es gelungen den Zentralrat personell völlig anders aufzustellen, aufzubauen. Er hat wirklich eine hohe Qualität in den Mitarbeitern, eine hohe Kompetenz in den Mitarbeitern.
Es ist ja nun so, dass in Zeiten moderner Kommunikation es nicht zwingend notwendig ist, dass man jede Woche einen Tag im Gebäude des Zentralrats verbringt, wenn es auch notwendig sein wird, häufiger in Berlin zu sein, ich habe eine Bestellpraxis, da ist es schon mal gut, wenn man von vornherein Patienten signalisieren kann, wann ich da bin und wann ich auch mal nicht da bin. Man sagt mir nach, ich hätte ein ganz gutes Zeitmanagement, ich will ja nicht behaupten, dass ich jetzt probiere, ob es nicht auch eine Stufe mehr geht, aber ich bin eigentlich ganz zuversichtlich.
Tenenberg: Wenn ich mir Ihr Leben anschaue, dann sehe ich eine konsequenten Aufstieg auf der Karriereleiter. Wie ihr Vater, sind sie Vorsitzender der Israelischen Kultusgemeinde und Unterfranken als auch in ganz Bayern. Wie sie sagten, ist das Würzburger Gemeindezentrum "Shalom Europa" auch ihr Kind. Im November wurden dort die ersten Rabbiner ordiniert. Wo wollen sie noch hin?
Schuster: Wohin will ich weiter? Weiter will ich ihm wahrsten Sinne des Wortes nicht. Ich habe nie die Position des Präsidenten des Zentralrats angestrebt. Meine Frau hält mir heute noch vor, zu dem Zeitpunkt, als wir geheiratet haben, das war 1983, dass ich, mein Vater war damals Vorsitzender der jüdischen Gemeinde, ihr gesagt habe: 'Vorsitzender der jüdischen Gemeinde werde ich nie. Das kann ich nicht neben einer beruflichen Position als selbständiger Internist.' Ja, zum einen kam das andere und es kam dann immer mehr oder weniger zufällig auf mich zu. Das hat sie mir jetzt auch in den letzten Tagen noch einmal unter die Nase gerieben. Jetzt wüsste ich beim besten Willen auch nicht, wo es noch weiter nach oben gehen sollte und wüsste auch nicht, ob ich da überhaupt weiter nach oben wollte, wenn es ginge.
Tenenberg: Dieter Graumann wollte seine Amtszeit durch positive Impulse hervorheben. Dennoch wurde er von der Beschneidungsdebatte und den Ausschreitungen des letzten Sommers eingeholt. Welche Position sehen Sie für sich?
Schuster: Das sehe ich sehr ähnlich wie Dieter Graumann, der eigentlich ja angetreten ist, um die positiven Seiten, die schönen Seiten des Judentums zu transportieren. Die Realität hat ihn in den letzten Jahren eingeholt. Auch mir ist daran gelegen die positiven Seiten, die schönen Seiten, wie Dieter Graumann es sagte, das 'putzmuntere Judentum' darzustellen – ich habe auch die Sorge, dass ich eher mit kritischen Tönen wahrgenommen werde. Mag vielleicht auch daran liegen ‚only bad news is good news'. Also ein Beitrag über die Schönheit des jüdischen Gottesdienstes, die Schönheit jüdischer Feiertage ist ja sicherlich mal ganz interessant, wird aber von der breiten Öffentlichkeit, vermute ich, weniger wahrgenommen als leider gegebenenfalls notwendige kritische Töne.
Tenenberg: Bei der Kundgebung gegen Judenhass am Brandenburger Tor im Sommer waren wenige deutsche Flaggen zu sehen, dafür viele israelische. Was halten Sie davon?
Schuster: Also A hätte nichts gegen deutsche Flaggen gesprochen, da sind wir sicherlich einer Meinung. Auf der anderen Seite, der Hintergrund dieser antisemitischen Welle war die Kritik an der Politik des Staates Israel, sehr bewusst, aber so formuliert, dass es nicht eine seriöse Äußerung von Kritik war, sondern purer Antisemitismus. Dass das Ganze sich aber jetzt im Kontext des Israel-Gaza-Konfliktes abspielte, macht doch die Darstellung israelischer Flaggen für mich sehr gut nachvollziehbar und auch verständlich.
Sicherlich, deutsche Flaggen wären genauso richtig gewesen, da bin ich völlig Ihrer Meinung, aber die Kritik, dass sich der Zentralrat oder persönlich Dieter Graumann als israelischer Diplomat dargestellt hätten – A habe ich sie in keiner Weise so empfunden, B ist sie mir in der Form nicht zu Ohren gekommen. Es ging hier aktuell um die Frage, dass wirklich, das war das Bedrückende, jüdische Menschen in Deutschland konkret mit der Frage an uns herangetreten sind: 'Kann man noch in Deutschland leben oder ist die Situation so, dass es sinnvoll ist, die Koffer zu packen?' Und das war letztlich der Auslöser dieser Kundgebung, die im Übrigen viel schöner gewesen wäre, wenn sie nicht hätte von jüdischer Seite organisiert werden müssen, sondern von nicht-jüdischer organisiert worden wäre.