Joseph Conrad: „Nostromo“

Unser Mann in Sulaco

Nostromo, ein Buch des Autors Joseph Conrad.
© Manesse

Conrad, Joseph

übersetzt von Haefs, Julian und Haefs, Gisbert

NostromoManesse Verlag, München 2024

500 Seiten

38,00 Euro

Von Tobias Lehmkuhl · 16.08.2024
Schöne Frauen, starke Männer und eine der unvergesslichsten Szenen der Weltliteratur: Joseph Conrad entfaltet in „Nostromo“ ein psychologisch-politisches Tableau, wie es auch noch für unsere Zeit gültig ist.
Nostromo, das ist natürlich kein richtiger Name, das ist ein Anspruch: Il nostro uomo, unser Mann. So wird Giambattista Fidanza von den Mächtigen in der Hafenstadt Sulaco genannt. Und selbst in seinem rechtmäßigen Familiennamen Fidanza klingt – lateinisch fides – die Treue an, die er der herrschenden Klasse entgegenbringt.
Dabei ist er ein Mann aus dem Volk, ein italienischer Matrose, der irgendwie in der Republik Costaguana hängen geblieben ist und sich hier, im anfangs beschaulichen, unbedeutenden Städtchen Sulaco, als fleißiger, durchsetzungsfähiger, stolzer Vorarbeiter der Hafenarbeiter Ruhm und Ehre erwirbt. Ein Mann von Stärke und Tatkraft, dem nicht nur seine Männer so treu ergeben sind, wie er den reichen weißen Kapitalisten ergeben ist, auch die Frauen liegen ihm zu Füßen. Selbst Martin Decoud, der Redakteur des Lokalblatts, bewundert ihn:
„Das also, sœur chérie, ist mein Gefährte auf der großen Flucht im Dienste der großen Sache. Er ist eher naiv denn gerissen, eher herrisch denn listig, von seinem Naturell her großzügiger, als es die Leute, die ihn benutzen, mit ihrem Geld sind. So sieht er sich jedenfalls selbst mit mehr Stolz denn Rührseligkeit. Ich bin froh, mich mit ihm angefreundet zu haben.“

Die Europäer in Sulaco

So sicher sich die Europäer sind, die in Sulaco die herrschende Klasse bilden, so sehr bleibt man als Leser lange im Ungewissen darüber, was den Helden wirklich antreibt und ob er nicht selbst entscheidend und zu seinen Gunsten in die Ereignisse eingreifen wird. Jene Ereignisse, die sich schon bei einer ersten kleinen Revolte zu Anfang des Romans ankündigen, bevor wir erst einmal dieses fiktive Sulaco kennenlernen – auf eine Weise kennenlernen, die uns das Wörtchen „fiktiv“ vergessen lässt, denn Joseph Conrads Erzählkunst will es, dass wir bald das Gefühl haben, selbst durch die Straßen von Sulaco zu reiten, die Blumen der reichen Flora zu riechen und die prächtige Kutsche der „Königin von Sulaco“ mit eigenen Augen zu sehen.
Eine echte „Königin von Sulaco“ gibt es freilich nicht, denn Costaguano gibt sich vordergründig als Republik aus, auch wenn die einfachen Leute, die Arbeiter und die Indios genannten Einheimischen nichts zu melden haben. Aber „Königin“ wird Mrs. Gould genannt, die Frau von Charles Gould, dem Mann, dem die ergiebige Silbermine von Sulaco gehört und damit die ganze Umgebung.
„Charles Gould wandte sich zur Stadt. Vor ihm ragten im hellen Morgen die gezackten Spitzen der Sierra ganz schwarz empor. Hier und da verdrückte sich schnell ein vermummter Lépero vor den klirrenden Hufen seines Pferdes um eine Hausecke. Hunde bellten hinter Gartenmauern, und mit dem farblosen Licht schien von den Bergen die Schneekälte auf das bucklige Straßenpflaster und die mit Läden verschlossenen Häuser mit ihrem bröckelnden Gesims und dem Putz zu fallen, der sich zwischen den glatten Stützpfeilern in Fladen abschälte.“

Der Leser wird auf die Probe gestellt

Joseph Conrad: Da denkt man an Seefahrt und Abenteuer, an Geschichten von jungen Männern, die im Angesicht von schweren Stürmen auf die Probe gestellt werden – sei es in „Lord Jim“ oder in „Die Schattenlinie“. Wie in seiner wohl berühmtesten Erzählung „Herz der Finsternis“ erweist sich Conrad in „Nostromo“ allerdings als evident politischer Autor, der sich wie kein anderer Schriftsteller seiner Zeit mit Rassismus und kapitalistischen Herrschaftsstrukturen beschäftigt. Ohne, und das ist die Kunst, aus seinen Romanen Pamphlete zu machen. Im Gegenteil, sie stellen den Leser und die Leserin selbst auf die Probe: Wie sehr sind wir dazu bereit, diesen Figuren, die uns mit der Zeit vertraut werden und für die wir durchaus Sympathie empfinden, uns von ihnen zu distanzieren und uns selbst infrage zu stellen?
„,Mach diese Fenster zu!‘, schrie Charles Gould ihn zornig an. Erschrocken über das, was sie für das Signal eines allgemeinen Massakers hielten, waren alle anderen Diener nach oben gestürmt, stolperten übereinander, Männer und Frauen, die namenlosen und für gewöhnlich unsichtbaren Bewohner des Erdgeschosses an den vier Seiten des Patio. Die Frauen schrieen ,Misericordia!‘, kamen ins Zimmer gerannt, ließen sich an den Wänden auf die Knie fallen und begannen sich krampfhaft zu bekreuzigen.“

Psychologische Figurenzeichnung

Conrad urteilt nicht, er erzählt mit einer Kraft und einem erzählerischen Atem, wie nur ganz große Autoren ihn haben. Seine psychologische Figurenzeichnung entfaltet die Persönlichkeiten in ihrer ganzen Ambivalenz. Und er ist er ein Meister der Atmosphäre. Neben Emma Bovarys Fahrt in der Kutsche oder Kapitän Ahabs letztem Kampf mit dem Weißen Wal werden jedem Leser und jeder Leserin von „Nostromo“ jene fünfzig Seiten unvergesslich bleiben, in denen Nostromo und Martin Decoud eine Nacht lang auf einem kleinen Ruderboot zwischen Sulaco und der vorgelagerten Insel treiben, an Bord die Silberschätze des letzten halben Jahres, auf dass sie nicht dem „Wilden“, dem „Gran bestia“ genannten Revolutionär Montero in die Hände fallen.
Wie die beiden auf einem kleinen Boot, einem sogenannten Leichter, übers Meer treiben, reden und schweigen und angespannt in die Dunkelheit hineinhorchen, ist einzigartig beschrieben: Nichts geschieht, und doch entscheidet sich in dieser Nacht alles, nicht nur das Schicksal Sulacos, sondern auch das von Nostromo und Martin Decoud. Selbst wer ganz und gar unpolitisch ist, wer vermeintlich nur seine Pflicht tut, lebt und handelt doch als Teil der Gesellschaft und bestimmt ihre Zukunft auf die eine oder andere Weise mit.
„Ein Regenschauer fiel mit jähem Wispern rings um das Boot, und Decoud, der den Hut abnahm, ließ seinen Kopf nass werden und fühlte sich sehr erfrischt. Bald darauf liebkoste ein stetiger kleiner Luftzug seine Wange. Der Leichter begann sich zu bewegen, aber der Regenschauer überholte ihn. Decouds Haupt und Hände trafen keine Tropfen mehr, das Wispern erstarb in der Ferne. Nostromo stieß ein zufriedenes Knurren aus, griff nach der Pinne und schnalzte leise, wie Seeleute es tun, um den Wind zu ermuntern.“
Joseph Conrad war nicht der Erzähler von Abenteuern, sondern der Psychologe der Abenteurer, schreibt Robert Menasse in seinem Nachwort zur Neuübersetzung von „Nostromo“ treffend. Julian und Gisbert Haefs haben den Roman in ein zeitgenössisches Deutsch gebracht, ein Deutsch, dem naturgemäß die Patina fehlt, wie sie Übersetzungen mit den Jahren annehmen und wie sie Lore Krüger Übersetzung von 1983 zu eigen ist und durchaus reizvoll macht. Aber mehr noch als bei Krüger wird einem in der Neuübersetzung deutlich, wie zeitlos dieser Roman ist.
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