Joseph Incardona: "One-Way-Ticket ins Paradies"
Aus dem Französischen von Lydia Dimitrov
Lenos Verlag, Basel 2020
310 Seiten, 22 Euro
Abgesang auf den neoliberalen Luxuswahn
02:59 Minuten
Ein Luxusurlaub verwandelt sich für eine vermeintliche Vorzeigefamilie in einen Höllentrip. Der Schweizer Joseph Incardona hat mit "One-Way-Ticket ins Paradies" einen rabenschwarzen Krimi vorgelegt. Allerdings ohne Ermittler.
"Vergessen Sie alles, was Sie meinen, über Ferien zu wissen. Die Insel Ihrer Träume hat Sie längst in ihr Herz geschlossen, Iris." Diese Nachricht erscheint auf dem Bildschirm von Bankiersgattin Iris Jensen. Wenige Tage später ist die vierköpfige Familie auf dem Weg ins Paradies, irgendwo weit entfernt von allem in der Karibik.
Passgenaue Werbung, personalisierte Angebote, gern mit einem ganz persönlichen Touch: Die Methoden der digitalen Tracker werden immer treffsicherer und verbindlicher. Warum also sollte man einem guten Angebot aus dem Internet misstrauen?
Wie das Paradies dann für den einen oder die andere aus der Familie zur Hölle wird, ist die Geschichte dieses Romans, der einen klar definierten Spannungsbogen hat. Angenommen, man wollte so ein Paradies verlassen, warum auch immer: Gäbe es da überhaupt jemals einen Weg zurück? Und warum sollte man solch ein Paradies überhaupt verlassen wollen?
Die Geschichte kann nur übel ausgehen
Dieser Roman hat den Titel "One-Way-Ticket ins Paradies". Es ist also von Beginn an klar, dass es kein Zurück gibt – und dass die Geschichte nur übel ausgehen kann. Auf welche Weise sie das tut, ist allerdings dann schon ziemlich überraschend. Es ist, wenn man so will, ein durch und durch paradiesisches Übel, das die Beteiligten erwartet. Zwischen Himmel und Hölle gibt es nur einen sehr schmalen Grat in dieser Geschichte.
Der Schweizer Joseph Incardona scheint jedenfalls ein teuflisches Vergnügen an der Entzauberung des Paradiesischen zu haben, und zwar in einer Mischung aus Spannungs-, Abenteuer-, Familien- und Horrorgeschichte. Das ist kein Krimi, aber ein Noir. Denn auch formal unterläuft und dekonstruiert er sämtliche Konventionen, die von einem "Krimi" normalerweise erwartet werden: Es gibt im Prinzip keinen Fall, der festgestellt, ermittelt und aufgeklärt werden muss. Es existieren auch keine Ermittlenden, die einen durch die Handlung führen.
Das Publikum selbst muss die Geheimnisse entschlüsseln
Dieser Part geht ans Publikum selbst, an die Lesenden, die staunend und gebannt nach und nach entschlüsseln, was es mit diesem Paradies und mit dieser vermeintlichen Vorzeigefamilie auf sich hat und welche üblen Geheimnisse dort jeweils lauern. Sehr geschickt gemacht ist, wie mithilfe verschiedener Suspense-Bögen im Kleinen nach und nach ans Licht gelangt, wobei die Leserinnen und Leser zwar mehr wissen als die Protagonisten, aber auch nie sicher sein können, über welchen Anteil an der Gesamtinformation sie verfügen, die es bräuchte, um das Ganze zu verstehen.
Und das Paradies? Es ist letztlich unser aller Leben, um das es geht - zumindest vor Corona. Das Lebensgefühl von 'anything goes', wenn man es sich bloß leisten will. "One-Way-Ticket ins Paradies" ist ein Abgesang auf den neoliberalen Luxuswahn – und ein pechschwarzer, hinterlistiger Noir ohne jeglichen Ausweg.