Joseph Stiglitz/Bruce C. Greenwald: "Die innovative Gesellschaft. Wie Fortschritt gelingt und warum grenzenloser Freihandel die Wirtschaft bremst"
Aus dem Amerikanischen von Stephan Gebauer
Econ, Berlin 2015
608 Seiten, 28 Euro
Sind die Grenzen des Wachstums erreicht?
Der Wirtschaftswissenschaftler Joseph Stiglitz wurde mit seinen Positionen gegen die Liberalisierung der Finanzmärkte zur Leitfigur der Kapitalismuskritik. In seinen neuen Büchern fordert er staatliche Regulierung, Steuererhöhungen für Reiche und Investition in Bildung.
Joseph Stiglitz, Träger des Wirtschaftsnobelpreises, einst Chefökonom der Weltbank und Wirtschaftsberater von Bill Clinton, gilt als Popstar unter den Ökonomen. Mit seinen Positionen gegen die Liberalisierung der Finanzmärkte, gegen eine Austeritätspolitik in der griechischen Staatsschuldenkrise und gegen die neoliberale Politik der Deregulierung wurde er zur Leitfigur der Kapitalismuskritik.
Eine der größten Gefahren des schrankenlosen Kapitalismus sieht Stiglitz in der sozialen Ungleichheit. "Reich und Arm" – ist dann auch das Thema seines neuen Buches, das eine Vielzahl seiner bereits veröffentlichter Zeitungs- und Zeitschriftenartikel versammelt. Die Probleme sind bekannt: Es gibt das "1 Prozent" – und es gibt den Rest. "Dem reichsten Prozent der Welt gehört mittlerweile fast die Hälfte des weltweiten Vermögens", die Superreichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer, die soziale Kluft ist groß wie nie zuvor – was also tun?
Wir leben in einem "Ersatzkapitalismus"
Zunächst einmal will Stiglitz mit einer Reihe von Irrtümern aufräumen: Der größte Fehler besteht für ihn in der "Überzeugung, Märkte regulierten sich von selbst und der Staat solle sich weitestgehend aus dem Wirtschaftsleben heraushalten". Steuersenkungen für Spitzenverdiener seien ebenso verkehrt wie Niedrigzinspolitik und die Trickle-Down-Theorie, nach der der Wohlstand der Reichen auch zu den Armen "durchsickere". Wir lebten derzeit in einem "Ersatzkapitalismus", in dem Verluste vergemeinschaftet und Gewinne privatisiert würden.
Die enorme Ungleichheit, zu der in Amerika auch die fehlende Chancengleichheit beim Hochschulzugang und das Problem der stark gestiegenen Studienschulden gehören, führe zu einer "Erosion des amerikanischen Identitätsbewusstseins" und gefährde die Demokratie. Für Stiglitz ist aber auch klar: Das ist keine unvermeidliche Entwicklung der Marktwirtschaft, sondern das Ergebnis falscher Politik. Sein Gegenmodell: Stärkere staatliche Regulierung, Steuererhöhungen für die Reichen, Subventionsabbau für Konzerne, mehr Investition in Bildung, Technologie und Infrastruktur. Die damit einhergehende Konzentration auf eine Wissens- und Innovationsökonomie beschreibt er gemeinsam mit Bruce C. Greenwald in dem Buch "Die innovative Gesellschaft":
Während der Begriff der Innovation unscharf bleibt, plädieren die Autoren für eine "Gesellschaft des Lernens", die für die Steigerung des Lebensstandards unabdingbar sei. Das erfordert lokales Denken und Handeln. "Wenn ein Land wie die Vereinigten Staaten aufhört, Thermosflaschen herzustellen, weil diese sich beim gegenwärtigen Lohnniveau billiger in China produzieren lassen, dann wird es nicht lange dauern, bis die Vereinigten Staaten zurückfallen – nicht nur in der Produktion von Thermosflaschen, sondern auch in allen Technologien, die damit zu tun haben." Folgerichtig zeigen sich Stiglitz und Greenwald als scharfe Kritiker des Freihandelsabkommens TTIP.
Eine "dynamisch lernende Wirtschaft" aufbauen
Handelsabkommen behindern aus ihrer Sicht das Lernen und schaden damit der Volkswirtschaft. Durch Handelsbarrieren – etwa innerhalb der Grenzen der EU – werde dagegen das Lernen gefördert und damit die Produktivität erhöht. Die Annahme, dass eine freie Marktwirtschaft zwangsläufig effizient sei, kritisieren beide als "Gleichgewichtsfiktion". Sie plädieren dafür, mittels Industriepolitik – also durch staatliche Eingriffe – eine "dynamisch lernende Wirtschaft" aufzubauen und eine optimale Ergänzung von öffentlicher Hand und Marktmechanismus zu schaffen: "Es geht nicht darum, sich entweder für den Markt oder für den Staat zu entscheiden."
Kritisch zu fragen bleibt allerdings, mit welchem Wachstumsbegriff die Autoren operieren. Wenn das Ziel – und zwar nicht nur für die Entwicklungsländer, sondern auch für die Industrienationen – eine lernende Gesellschaft sein soll, die wiederum das Ziel verfolgt, ihren Lebensstandard zu steigern, drängt sich angesichts immer knapper werdenden Ressourcen die Frage auf: Wie weit können wir unseren Lebensstandard denn noch steigern? Sind die Grenzen des Wachstums nicht längst erreicht?
Joseph Stiglitz: "Reich und Arm. Die wachsende Ungleichheit in unserer Gesellschaft"
Aus dem amerikanischen Englisch von Thorsten Schmidt
Siedler: München 2015
512 Seiten, 24,99 Euro