Joshua Cohen: "Das Buch der Zahlen"
Aus dem Englischen von Robin Detje
Schöffling & Co, Frankfurt/Main 2018
750 Seiten, 32.- Euro
Die Handlung ist ein Datenstrom
Joshua Cohens neuer Roman ist ein wilder Stilmix, ein Informations-Tsunami aus Emails, Zitaten, Interviews, Zahlenmystik und Detailwissen über Internettechnologie: Zeugnis eines Kampfes zwischen klassischen literarischen Verfahrensweisen und ihrer Verselbstständigung.
Joshua taucht als Name bereits in der Bibel auf. Er stieg mit Moses auf den Berg Sinai, kundschaftete und kämpfte für ihn. Ein offenbar redlicher Mann, der schließlich Moses' Nachfolger wurde und dem es vergönnt war, das Volk der Israeliten nach 40 Jahren Umherirrens durch die Wüste endlich in das von Gott verheißene Land zu führen. Joshua: ein Prophet, Krieger und Schriftkundiger.
Dass die Hauptfigur in "Das Buch der Zahlen", dem neuen Roman von Joshua Cohen, ebenfalls Joshua heißt, ist kein Zufall. Mehr noch: Sie heißt Joshua Cohen – und ist eine Art Personalunion von Bill Gates, Steve Jobs und Mark Zuckerberg, ein Internet-Suchmaschinen-Cyber-Milliardär oder -Billionär, einer, der mit Daten handelt, mit Informationen und neuen Computertechnologien.
Joshua Cohen gegen Joshua Cohen
Er spricht von sich selbst nur in der ersten Person Plural und wird "Principal" genannt, von Robin Detje nicht ganz glücklich als "Der große Vorsitzende" übersetzt. Denn wer hier unweigerlich an Mao denkt, lenkt seine Gedanken in die falsche Richtung. "The Principal" ist kein Parteiführer, keine Ikone, sondern eher eine Funktion, so etwas wie die alles entscheidende Tastenfunktion.
Jener machtvolle Joshua Cohen also beauftragt einen gescheiterten Schriftsteller namens Joshua Cohen, als Ghostwriter seine Autobiografie zu schreiben. Dieser Cohen hat eine Zeit lang in einem Antiquariat gearbeitet.
Er ist Nachfahre von Holocaustüberlebenden, ein Mann des Buches, liebt Papier, gebundene Seiten, Signaturen, Quartformate, Deckel aus Pappe. Dass ausgerechnet er über den Herrscher der Algorithmen, des World Wide Web, der Monitore und zerrissenen Kontexte, schreiben soll, ist ironisch, tragisch und subversiv zugleich. Zwei Weltanschauungen, zwei Lebenshaltungen werden hier kombiniert und es ist schnell klar, welche davon eine Zukunft hat. Nicht Moses durfte ins verheißene Land, sondern Joshua, der Führer einer neuen Generation.
Leben in einer Computer- und Internet-Welt
"Das Buch der Zahlen" ist der vorläufig umfangreichste und vielschichtigste einer Reihe von Romanen angloamerikanischer Autoren, die das Leben in einer Computer- und Internet-gesteuerten Welt imaginieren. "Mikrosklaven" von Douglas Coupland, in den 1990er-Jahren erschienen, war einer der ersten. Der wohl bekannteste ist "The Circle" von Dave Eggers aus dem Jahr 2013.
"Das Buch der Zahlen" ist in mehrfacher Hinsicht das Zeugnis eines Kampfes: zwischen zwei Joshua Cohens, die beide Protagonisten des Romans von Joshua Cohen sein wollen. Zwischen Wörtern und Zahlen. Zwischen klassischen literarischen Verfahrensweisen und ihrer Verselbstständigung, ihrer Entkontextualisierung, die einen wilden Stilmix, einen Informations-Tsunami freisetzt, in dem der Leser unterzugehen droht.
"Das Buch der Zahlen" ist in mehrfacher Hinsicht das Zeugnis eines Kampfes: zwischen zwei Joshua Cohens, die beide Protagonisten des Romans von Joshua Cohen sein wollen. Zwischen Wörtern und Zahlen. Zwischen klassischen literarischen Verfahrensweisen und ihrer Verselbstständigung, ihrer Entkontextualisierung, die einen wilden Stilmix, einen Informations-Tsunami freisetzt, in dem der Leser unterzugehen droht.
Der Mensch in Zeiten des Binärcodes
Auf 750 Seiten finden sich Tagebuchaufzeichnungen, Emails, Interviews, montierte Zitate, Aufsätze zu Buddhismus, Hinduismus, Kabbala, Holocaust, Familiengeschichte, philosophische Reflexionen, vulgäre Kalauer, Webkontrollprogramme, Zahlenmystik, Detailwissen über Internettechnologie – 180 Bücher allein dazu hat Cohen zur Vorbereitung des Romans gelesen, auch das Programmieren hat der studierte Musikkomponist dafür erlernt.
Alles hat in diesem Roman mit allem zu tun. Die Handlung ist ein Datenstrom. Aber alles ist nicht durchschaubar. Irgendwann weiß man nicht mehr: Was ist Fakt, was ist Wahrheit, was ist Identität? Was ist der Mensch in Zeiten des Binärcodes? Eine Antwort gibt dieser Roman nicht. Aber er zeigt, wie dringend wir uns dieser Frage stellen müssen.
Wie Technik die Identität aufsplittet
Im Deutschlandfunk Kultur betonte Joshua Cohen: Er sei fasziniert gewesen von dem Gedanken, "wie durch die Technik unsere Identität aufgesplittet wird". Im Internet, in E-Mails, in persönlichen Gesprächen oder hier im Radio spreche man anders, also abhängig vom Kontext. "Erst durch die Kontextualisierung werden wir zu denen, die wir sind." Wenn aber die ganze "Bugwelle meiner digitalen Spuren" offengelegt werde, dann erscheine er nicht mehr als der, der er in Wirklichkeit sei. "Und das erschreckt mich wirklich."