"Ausweg aus dem Angst-Gefängnis"
500.000 Ermordete – und niemand zeigt Reue: In seinem Film "The Look of Silence" spürt Joshua Oppenheimer erneut den Folgen der Massenmorde durch die indonesische Militärjunta vor 50 Jahren nach. Während er zuvor die Täter zeigte, geht es ihm nun um die Nachwirkungen bei den Angehörigen der Opfer.
Susanne Burg: In der kommenden Woche, am 1. Oktober, jährt sich ein trauriges Ereignis: Vor 50 Jahren hat in Indonesien der Genozid an 500.000 Mitgliedern und Sympathisanten der Kommunistischen Partei begonnen. Ebenfalls an diesem Tag kommt nun Joshua Oppenheimers neuer Film "The Look of Silence" ins Kino. Es ist die Fortsetzung von "The Act of Killing", dem Oscar-nominierten Film über diese Massenmorde durch die indonesische Militärjunta und einem Mob aus der Bevölkerung. Die Zeit ist nie aufgearbeitet worden – und so erzählen die Mitglieder der Miliz im ersten Film stolz von ihren Gräueltaten.
Nun, im zweiten Film, begleitet der amerikanische Filmemacher den 44-jährigen Optiker Adi Rukun. Sein Bruder Ramli ist 1966 auf brutale Weise Opfer der Morde geworden.
Beide, Adi Rukun und Joshua Oppenheimer, waren zu Gast hier im Deutschlandradio Kultur, und ich habe zunächst gefragt: Mr. Oppenheimer, "The Act of Killing" beleuchtete die Seite der Täter, "The Look of Silence" jetzt die Seite der Opfer. Sie haben teilweise parallel an den Filmen gearbeitet. Offenbar war es für Sie nicht denkbar, beide Seiten in einen Film zu bringen. Warum nicht?
"Es entstand eine Kultur, in der Massenmorde gerechtfertigt wurden"
Joshua Oppenheimer: Im zweiten Film treten nicht ausschließlich Opfer als Gegenpart zu den Tätern auf, um die es ja im ersten Film ging. "The Look of Silence" schildert aus der Perspektive der Opfer und Überlebenden, wie es sich anfühlt und was es heißt, in einer Gesellschaft zu leben, in der die Täter noch immer das Sagen haben.
Sie werden durch die Augen eines einzelnen Überlebenden wahrgenommen. Der Mann heißt Adi Rakun. Für mich ergänzen sich die beiden Filme. Ja, man kann sie als ein einziges zusammenhängendes Werk betrachten. Es geht um zwei komplementäre, wenn auch grundverschiedene Aspekte von Straflosigkeit heute. Man sieht nicht, was 1965 beim Putsch geschah, denn ich wollte keinen historischen Dokumentarfilm drehen.
Der erste Film in seiner ungeschnittenen zwei Stunden und 40 Minuten langen Fassung erforscht all die Lügen, Fantasien und Geschichten, die die Täter erzählen, um ihre Verbrechen erträglich zu machen. Das Schlimme ist, dass das ganze Volk diese Siegergeschichte verinnerlichen sollte und so eine Kultur entstand, in der Massenmorde gerechtfertigt und als etwas Normales angesehen wurden. In "The Look of Silence" kann der Zuschauer nachvollziehen, was es heißt, ein Überlebender zu sein – ein Indonesier, der ein halbes Jahrhundert lang gezwungen war, dieses Regime voller Angst und stumm zu ertragen.
Burg: Joshua Oppenheimer, wie haben Sie Adi Rakun bei dieser Reise begleitet und beraten? Was waren die Herausforderungen, gab es einen Punkt, an dem Sie dachten, jetzt ist es aber ein bisschen zu gefährlich?
"Adi sagte: Ich brauche jetzt die Konfrontation"
Oppenheimer: Es ist mir wichtig festzuhalten, dass es Adi war, der von Anfang an darauf bestand, den Tätern gegenüberzutreten. 2012 kehrte ich nach Indonesien zurück, um mit den Dreharbeiten für "The Look of Silence" anzufangen. "The Act of Killing" war gerade fertig, aber noch nicht in den Kinos. Ich wusste, dass ich nach dem Filmstart in Indonesien ungeschützt wäre. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass Adi mein Protagonist sein würde, nur, dass der Film von seiner Mitarbeit abhing.
Also fragte ich ihn, wie ich den neuen Film wohl am besten beginnen sollte. Adi sagte: "Joshua, ich kenne dein Filmmaterial der vergangenen sieben Jahre. Es hat mich verändert. Ich brauche jetzt die Konfrontation mit denen, die meinen Bruder umgebracht haben." Für mich war klar, es würde der erste Dokumentarfilm werden, in dem ein Überlebender Tätern gegenübertritt, die ja in seiner Vorstellung noch immer alle Macht in Händen halten.
Adi hoffte, dass die Täter – wenn er ihnen freundlich und verständnisvoll begegnete – die Gelegenheit ergriffen, Frieden mit den Angehörigen der Opfer zu schließen. Er hoffte, dass die Opfer den Tätern vergeben würden, denn Adi wollte nicht länger in Angst vor seinen Nachbarn leben. Er sagte: "Was wäre denn, wenn eines meiner Kinder ein Kind oder ein Enkelkind der Täter heiraten wollte? Es wäre doch entsetzlich, wenn man keine Familie sein könnte." Adi suchte nach einem Ausweg aus seinem Angst-Gefängnis. Mich hat das sehr berührt. Mir war aber auch klar, dass ich in der ganzen Region bekannt war als derjenige, der zu den hochrangigen Tätern des Landes Zugang hatte. Es wurde im Land viel über die Dreharbeiten zu "The Act of Killing" geredet, selbst wenn den Film noch niemand gesehen hatte. Adi dachte, dass die Männer, die er sehen wollte, es nicht wagen würden, ihm auszuweichen, weil ich ja Kontakt hatte zu den Kommandeuren und sie diese nicht beleidigen wollten, indem sie uns angriffen. Das war also eine einzigartige, irgendwie auch bizarre Situation.
Adi sollte von Mal zu Mal entscheiden, ob er sich als Bruder eines Getöteten zu erkennen gibt. Ich würde zu den Tätern sagen: "Sie erinnern sich doch an mich? Dieses Mal habe ich einen Freund mitgebracht. Er ist Indonesier und ist von der Geschichte persönlich betroffen, wenn auch ganz anders als Sie. Ich möchte gern filmen, wie Sie darüber reden. Er ist Optiker und geht von Tür zu Tür, um Brillen zu verkaufen. Als Dankeschön für Ihre Bereitschaft mitzuwirken, wird er Ihre Augen untersuchen und Ihnen, falls nötig, eine Brille anpassen."
Sollte die Spannung zu groß und vielleicht auch gefährlich werden, würde ich einschreiten und den Täter daran erinnern, dass ich gekommen sei, um zwei verschiedene Sichtweisen zu dokumentieren. Ich wollte dem Dialog eine Chance geben, selbst wenn ich vermutete, dass wir nur unser Scheitern sichtbar machen würden: den Abgrund der Angst und die Angst der Täter, ihre Schuld einzugestehen – also das, was die Menschen auseinander treibt.
"Es gibt so ein Gefühl von Zufriedenheit, dass ich diesen Film mitmachen konnte"
Burg: Adi Rakun, Sie stehen im Zentrum des Films. Sie gehen zu verschiedenen ehemaligen Paramilitärs und wollen verstehen, warum sie bei den Morden an den vermeintlichen Kommunisten in den 60ern mitgemacht haben und warum sie auch Ihren Bruder umgebracht haben. Das war ein großer Schritt, das zu tun. Was hat Sie dazu veranlasst, bei dem Film mitzumachen?
Adi Rakun: Es gibt so ein Gefühl von Zufriedenheit, dass ich diesen Film mitmachen konnte, und vorher war es ja unmöglich, dies zu machen.
Burg: Sie gehen da hin, und die Reaktionen der Menschen sind häufig Verärgerung, Widerstand, aber keine Reue. Ein ehemaliger Paramilitär, Inong, ist sichtlich verärgert über die Fragen, die Sie stellen, und sagt: "Du stellst zu viele Fragen." Hatten Sie diese Reaktionen erwartet?
Rakun: Also ich bin ja kein Mann, der sich sehr schnell ärgert, aber ich war natürlich sehr, sehr enttäuscht, weil ich komme mit einem guten Willen zu dem Mann, und ich möchte über diese Verschwiegenheit, die 50 Jahre schon gedauert hat, einfach eine Aufklärung bekommen.
Burg: Eine Sache, die ja auch zentral ist, ist, dass Sie auch versuchen zu verstehen, wie eigentlich Ihr Bruder umgebracht wurde, und Sie verstehen es im Laufe des Filmes. Wie befreiend war es, das endlich zu erfahren, was geschehen ist, und wie sehr haben Sie diese Bilder auch verfolgt?
Rakun: Wir wussten schon vorher, wer ihn umgebracht hat. Weil meine Mutter hat mir immer erzählt, tagsüber, morgens, nachmittags, abends, wenn sie die Gelegenheit hatte, über den Mord. Aber die Chance, dass ich die Täter direkt konfrontieren konnte, war natürlich während dieses Films. Durch diesen Film habe ich natürlich erfahren über noch mehr Leute, die in diesen Mord involviert waren. Weil damals war es sehr beängstigend, nur um diese Sachen zu erzählen. Bei uns gibt es diesen Spruch, dass sogar die Wand zuhören kann. Deswegen habe ich dieses, was 1965 passiert ist, und auch diesen Mord an meinem Bruder nur von meiner Mutter bekommen. Und mein Vater hat von dieser Tatsache niemals erzählt, weil ich glaube, dass er sehr stark traumatisiert ist.
Burg: Joshua Oppenheimer, Ihre beiden Filme – "The Act of Killing" und "The Look of Silence" sind visuell sehr eindrücklich, wie Sie zum Beispiel die Landschaft Indonesiens einfangen. Sie sind optisch aber auch in mancher Hinsicht unterschiedlich. Die Bilder in "The Act of Killing" sind manchmal fast hyperreal, wie stilisierte Gemälde, und das passt auch irgendwie zu den Protagonisten der Täterseite, den Mördern, ihren Taten.
Nun erzählen Sie die Geschichte aus der Sicht eines Überlebenden. Die Bilder sind nicht ganz so überdreht, die Machart ist ein bisschen klassischer. Inwieweit haben Sie für den zweiten Film bewusst eine andere Form gewählt?
"Die beiden Filme 'The Act of Killing' und 'The Look of Silence' ergänzen sich"
Oppenheimer: Die beiden Filme sind so etwas wie Umkehrungen. In der ursprünglichen Fassung von "The Act of Killing" gibt es viele Einstellungen, in denen ein beklemmendes Schweigen zu sehen ist. Oft steht eine Person allein inmitten einer Landschaft mit kaputten Gebäuden. Diese Sequenzen korrespondieren mit einem Perspektivwechsel vom Täter hin zu den abwesenden Toten. Oder es gibt abrupte Schwenks hin zu den Tätern, die diesen geisterhaften Raum bevölkern, in dem jeder leben muss. Der zweite Film soll die Zuschauer spüren lassen, was es bedeutet, ein Leben aufzubauen, das aus Schweigen besteht, ein Leben, in dem es verboten ist, zu trauern, in dem es keine Heilung gibt. Die beiden Filme gehören zueinander wie Arme und Beine. Sie ergänzen sich. Sie gehören beide zum Körper und sind doch ganz unterschiedlich.
Burg: Ihr Film "The Act of Killing" hat in Indonesien eine große Diskussion in Gang gebracht. Nun fand im letzten November die Premiere von "The Look auf Silence" im Land selbst statt, seitdem gab es mehr als 3000 Aufführungen in Indonesien. Inwieweit unterscheiden sich die Reaktionen auf den neuen Film von denen auf "The Act of Killing"?
Oppenheimer: Nun, "The Act of Killing" hat "The Look of Silence" den Weg bereitet. Als der erste Film für den Oscar nominiert worden war, gestand die indonesische Regierung, dass das, was 1965 geschehen war, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit war und Versöhnung nötig. Sie kritisierten den Film natürlich weiterhin und behaupteten, sie bräuchten dafür keinen Film.
Aber nichtsdestotrotz war das ein großartiger Augenblick, denn es war schließlich das erste Mal, dass die Regierung das Verbrechen einräumte. Wir haben mit dem Film erreicht, dass auf nationaler Ebene über die Gräuel gesprochen wurde und dass die nationale Menschenrechtskommission in Djakarta den offiziellen Vertrieb des Films "The Look of Silence" übernahm. Jüngere Indonesier, die den Film sehen, können unmöglich ignorieren, dass die Regierung von ihnen verlangt, ihre Kinder in Angst großzuziehen und in diesem Gefühl gefangen zu halten. Wer den Film sieht, muss einfach für die Wahrheit eintreten und für Versöhnung. Das Filmpublikum ist jetzt viel größer und es wird die Diskussion auf eine ganz neue Ebene heben. Es ist der nächste Schritt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.