Joshua Sobol: "Der große Wind der Zeit"
Aus dem Hebräischen von Barbara Linner
Luchterhand Verlag, München 2021
540 Seiten, 24 Euro
Gelebtes Leben, neu geträumt
06:24 Minuten
Eine junge Verhörspezialistin verlässt die israelische Armee und studiert ihre Familiengeschichte. An vier Generationen entlang entwirft Joshua Sobol in seinem neuen Roman ein komplexes Gesellschaftspanorama Israels.
Eine junge Israelin, die während ihres Wehrdienstes Hunderte von Attentätern und deren Handlanger verhörte, steht im Mittelpunkt von Joshua Sobols neuem Romans. Auf die Geständnisse folgten "Haft. Hauszerstörung. Vergeltungsanschlag. Untersuchungshaft. Verhör. Prozess. Hauszerstörung". Die immer gleiche Kette von Strafmaßnahmen höhlt Libbys Leben aus. Sie verlässt die Armee und sucht Ruhe im Haus ihres abwesenden Großvaters.
Ihr letzter Fall – die Überprüfung eines Palästinensers mit britischem Pass, der in Coventry über die Geschichte des Zionismus promoviert – könnte ihr Leben verändern. Sobol belässt es klugerweise bei Andeutungen, denn bis heute weigern sich Teile der israelischen und palästinensischen Gesellschaft, zweierlei Geschichtsnarrative anzuerkennen, viele Gutwillige resignieren.
Lebensfäden von zwei Dutzend Personen
Libby gehört zur vierten Generation einer aschkenasisch-jemenitischen Familie. Ihre Vorfahren kamen aus Österreich und Afrika "ins Land", zu einer Zeit, als die judäischen Berge noch unbewohnt waren und mit "rostigen Gewehren bewaffnete Hirten langhaarige Ziegen bewachten". Die Nachkommen der zionistischen Pioniere bewirtschaften Land in einer Siedlung, sie arbeiten als Ingenieure und einer strebt sogar das Amt des Ministerpräsidenten an.
Joshua Sobol verwebt die Lebensfäden von zwei Dutzend Personen, die einander brauchen, sich betrügen und belügen. Sarkastisch lässt er die männlichen Charaktere straucheln. Sie sind verblendete, leicht erpressbare Dilettanten, die sich für clevere Strippenzieher und begehrenswerte Liebhaber halten. Selbst Minderjährige nutzen Sex ungerührt als Mittel zum Zweck und setzen in witzigen, abgebrühten Dialogen ihre moralisch verdorbenen Eltern schachmatt.
Ein Kibbuz hat Erfolg an der Börse
Hundert Jahre Geschichte fächert Joshua Sobol in seinem ambitionierten und ungeheuer lebendig erzählten Roman auf. Spielend leicht verschränkt er die Vergangenheit mit der Gegenwart: Ein Kibbuz, dem im Unabhängigkeitskrieg 1948 die vollständige Zerstörung drohte, ist heute an der Börse erfolgreich. Die für ihre anspruchslose Lebensweise bekannten, früher rigoros auf das Kollektiv eingeschworenen Kibbuzmitglieder wissen nicht – anders als ihre Verwandten -, was sie mit dem Gewinn anfangen sollen.
Und eine Tel Aviver Nachtschwärmerin wirkt wie die Wiedergängerin ihrer Urgroßmutter, die als Tänzerin im Berlin der 1930er-Jahre eine Affäre mit "dem Lederjackett" hatte. Man spürt die Lust des Theatermachers Sobol, die unschwer als Bertolt Brecht zu erkennende Legende zu demontieren. Das Gebaren des eitlen, manipulativen Dramatikers ist zum Lachen.
Beim Erzählen konzentriert sich Sobol auf drei Persönlichkeiten. Es sind Libby, ihr Großvater Uri und dessen Mutter, die unverheiratete Tänzerin Eva Ben-Chaim. Mit ihrem Partner baute sie 1942 die deutsche und die arabische Abteilung des jüdischen Kampfverbandes Palmach auf, um den befürchteten Einmarsch von Rommels Truppen in Palästina abzuwehren. Libby vertieft sich in herumliegende Tagebücher ihrer Urgroßmutter und tritt in einen inneren Dialog mit ihr.
Ein Appell, sich für "die Anderen" zu interessieren
In diesen Passagen zeigt sich die ganze Kunst des Dramatikers und Romanciers Joshua Sobol. Entscheidungen werden hinterfragt und gelebtes Leben neu geträumt. Unausgesprochene Aufträge werden erkannt. Libby versteht, welches Erbe der Großvater ihr hinterlassen wird. Er ist noch immer – anders als seine Söhne – freundschaftlich verbunden mit Palästinensern seines Alters. In "Der große Wind der Zeit" steckt der Appell an junge Israelis und Palästinenser, sich endlich für das Leben, die Geschichte und die Zukunft "der Anderen" im Land zu interessieren.